Einmal an einem unschnitzigen Tage, da der Nebel tief von den Gräten hing und die Bise bitterkalt seeab zog, kam ein altes Weiblein in das Dorf Brienz. Niemand kannte das verhutzelte, kleine Mütterchen. Beim ersten Hause klopfte es an um Speise und Trank, auch wenn es nur ein Brösmeli und Tränlein wäre, und es fragte um ein Nachtlager, da es Abend werden wolle und der Wind gar zu scharf über den Weg blase. Die Leute waren selber arm und wollten sich nicht auch noch von dem Wenigen entblössen. Vor der zweiten Türe erhielt es trotz seines Anhaltens einen ähnlichen Bescheid, vor der dritten und vierten ging es ihm nicht besser. Die Leute erwiesen sich als geizig, ja gar hartherzig. Überall hiess man es weggehen, unverrichteter Dinge, oder schlug ihm mit einem Scheltwort oder einem mitleidlosen Lachen die Türe vor der Nase zu. So kam es bis an das andere Ende des Dorfes, ohne dass sich eine gute Hand bemüht hätte, ein wahrhaft freundliches Herz ihm begegnet wäre.
Da aber, bevor es das Dorf verliess, erhob es drohend seinen Stecken und schrie in furchtbarem Zorne in die Gassen hinein:
„O weh!
Brienz mues’ i See!“
Dann verschwand es, wie es gekommen.
Der Fluch des Weibleins ist noch nicht in Erfüllung gegangen; aber er hallt in den Dorfleuten nach bis auf den heutigen Tag. Wenn am Rothorn ein Unwetter niedergeht, dann äugen sie beklommen nach dem Wangwald hinter ihren Häusern und den Flühen in den Höhen, von denen das Unheil droht seit Jahr und Tag.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch