Alle hundert Jahre am Charfreitag und Gründonnerstag geht eine weisse Frau hauptlos von der Heidenburg zum Aabach hinunter und wäscht; erscheint sie aber dabei als Schlange, Spinne oder Kröte, so könnte man sie dannzumal erlösen. So begegnete sie nun einem Bauern aus dem benachbarten Dorf Staufen, als er eben auf den Kirchberg hinauf in die Osterpredigt gehen wollte, und legte sich ihm als faustdicke Spinne in den Pfad. Dies gilt aber für ein sehr schlimmes Zeichen, sagen die Leute; und wer da dennoch weiter will, wenn ihm eine Spinne den Weg verlegt, der geht zum letzten Male in die Kirche, denn das nächste Mal wird er hingetragen als Leiche.
Unser Mann kehrt also ebenfalls um, und will, die Zeit der Predigt hinzubringen, ins Wyl hinab und dorten seine Wässermatten betrachten. Aber hier kommt die Spinne hinterdrein, treibt ihn über den Aabach und bis zum Ausläufer des Egliswilerberges gegen die Heidenburg hinan. Da steht sie plötzlich als eine Jungfrau vor ihm in altfränkischer Tracht, reicht ihm die Hand und leitet so ihn stillschweigend in die Bergwand hinein. Alles öffnet sich vor ihnen, er steht da in einer Grotte voll Glanz und Schimmer wie in einer katholischen Wallfahrtskirche. Hier zeigt sie ihm alle Kostbarkeiten und bittet ihn um den Erlösungskuss.
Sie wandelt sich in Katze, Schlange und Drache; Krallen entwickelt sie so dick, wie Dornenbündel auf Kirschbäume gehängt - unerschrocken küsst er sie. Jetzt wird sie zur gewaltigen Kröte; er will fliehen, da springt sie ihm ins Genick, und bewusstlos sinkt er zusammen. Anderntags findet ihn der Bannwart drunten am Bache; kaum erkennt er ihn noch, so dick ist sein Gesicht verschwollen und all sein Haar bis auf den Stumpen vom Kopf weggesengt. Man bringt ihn heim, aber er stirbt in Irrsinn.
Vor etlichen Jahren machte am Charfreitag ein Anderer denselben Weg ins Wyl; da vernahm er ein grosses Brausen und Glockenstürmen von der Heidenburg herunter. Als er stille stand um aufzuhorchen, ob es nicht etwa auf der Staufnerkirche läute, hörte er dreiundzwanzig abgemessene Glockenschläge hintereinander droben auf den Felsen. Er meinte, das bedeute eben so viel Jahre von jenem laufenden Hundert, da dann die Jungfrau sich wieder einen Erlöser unter den Staufner-Bauern suchen dürfte.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch