Das «Rotgebirg» oder auch «der Rote Berg» heisst der Gebirgzug östlich von Goppenstein, ein Ausläufer der Bietschhornkette. Es hat immer geheissen, durch diesen Berg gehe eine Erzader, mächtig wie ein Baum, dessen Zweige bloss ans Tageslicht gelangen. Im Laufe der Jahrhunderte haben hier viele Minenherren ihr Glück versucht. Den einen kleidete die Mine in Samt und Seide, den andern zog sie aus bis aufs Hemd. Gewonnen wurden Blei und Silber. Einer der Minenherren bohrte die Erzgänge am Schönbühl an, hoch über der obern Waldgrenze. Noch heute sehen wir zerfallenes Gemäuer, wo es «zur Erzpoche» heisst. Nachdem der Minenherr lange den schmalen Erzadern nachgegangen war, warf er den Hammer in den tiefsten Schacht und rief: «Ich habe genug, und wer nach mir kommt, wird auch genug bekommen.» Nicht besser erging es vor hundert Jahren einer englischen Minengesellschaft, die grosse Anlagen gebaut hatte. Damals haben die Lötscher den Spruch geprägt:
Der Rot Bärg hed meh Schlitza
wan der Änglendrun Gäldsak Litza.
Der Rot Berg hat mehr Spalten
als der Engländer Geldsack Falten.
Ein Minenherr hatte doch Glück. Er liess vor dem Stollen den Schutt zu einem Berg aufhäufen und bekleidete ihn nach aussen mit funkelndem Erz. Dann liess die ganze Welt einladen und zeigte allen Besuchern seine Schätze. Ein reicher Mann liess sich täuschen und kauft die Mine. Er hat sein ganzes Vermögen hineingelegt und bis auf den letzten Rappen verloren. Die Leute sagen in der Mine sei es seitdem nicht mehr geheuer. Nächtlicherweile höre man in den verlassenen Stollen pochen wie in frühem Zeiten. Der schlaue Verkäufer müsste hier Erz graben, vielleicht bis zum jüngsten Tag.
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.