Am schwarzen Eisengitter der Wallfahrtskapelle U.L.F. von Kühmatt im Lötschental hing früher ein altes Votivbild, einen Mann darstellend, der an der Mähne eines Pferdes aus der Tiefe gezogen wird. Die Grossmutter hat gewusst, was diesem Mann begegnet ist, sie hatte es von ihrer Grossmutter erfahren.
Zwei junge Gesellen von Blatten verabredeten einmal im Sommer an einen Abendsitz nach Gletscheralp zu gehen, wo sie ihre Liebsten hatten. Jeder sattelte sein Pferd, denn es waren reiche Freier. Wie sie unter die Kapelle von Kühmatt kamen, wo nur ein schmaler Pfad am Abgrund über der tosenden Lonza vorüberführt, wurden beide Pferde plötzlich scheu. An der steilen Wand des Breithorns war eben ein Block Gletscher abgefallen, der polternd zu Tale rollte. Beide Reiter wurden abgeworfen. Der vordere stürzte mit dem Pferde in die Lonza und wurde von den reissenden Wogen fortgetragen. Der andere konnte sich am Felsen halten über dem schaurigen Abgrund zwischen Leben und Tod schwebend. Sein Pferd kam zurück und hing den Kopf über den Felsen hinaus, dass der Meister die Mähne fassen konnte. An dieser wurde er vom treuen Tier emporgezogen. Er hatte die Gottesmutter angerufen und ein Votivbild verheissen, wenn er gerettet werde.
Vergeblich suchte der Gerettete seinen verunglückten Freund. Nach einiger Zeit ist ihm dieser erschienen und hat ihm gesagt: «In Blatten sah ich noch die Lichter, als ich vorbeigeschwemmt wurde, bei Ried bin ich gestorben. Drei Sachen haben mich gerettet vor dem Richterstuhle Gottes: dass ich mit meinem guten Ross im Winter den Kirchweg öffnete, dass ich von jeder Bächin Brot um Gotteswillen einen Laib den Armen gab, und dass ich armen Wöchnerinnen einen Becher Honig schenkte.»
Dass der gerettete Freier nie mehr in der Nacht nach Gletscheralp geritten ist, brauch ich nicht zu sagen.
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.