Ein gefährlicher Jäger war Martin Waldin zum Salä bei Goppenstein. Vor ihm war kein Bein sicher, nicht im Sonnen- und nicht im Schattenberge. Vom ersten Pfiff der Murmeltiere am Nivengrat an St. Markt bis zum letzten an St. Martin strich der kühne Jäger ohne Unterbruch durch Wälder und Alpen und stieg bis auf die Gletscher und die höchsten Gräte. Aber wenn im Herbst die Murmeltiere sich eingeheuet und eingegraben, hatte der Jäger Waldin auch seinen Speicher reichlich versorgt mit Wildpret für den langen Winter und die Kästen angefüllt mit warmen Pelzen von schwarzgestreiften Gemsen und dichthaarigen Füchsen und Dachsen.
Einmal nun auf einer Frühlingsjagd hatte Waldin eine Gemse angeschossen; die Schönste, die ihm je vor das Rohr gelaufen. In wilden Sprüngen verfolgte er das verwundete Tier, bis zur Klamm in Rotgebirg, wo er wusste, dass es sich stellen müsse. Die Gemse stellte sich, aber anders, als er erwartet hatte.
Wie er hinüberblickt durch das schmale Grasband, sieht er die verwundete Gemse unter der schützenden Hand eines Riesen, dessen Hauch genügt hätte, ihn von den Felsen wegzublasen. Es ist der Berggeist der Adlerspitzen, der dem Jäger entgegenhält in vorwurfsvollem Tone: «Warum tötest Du mir alle Tiere?» Zitternd entschuldigte sich der Jäger: «Würd ich nicht birschen und jagen, so hätte ich nichts mehr zu nagen.» «Lass mir die Tiere», sagt der Berggeist, «und es soll Dir ein Wunsch erfüllt werden: wünsche aber nichts zu Deinem Schaden.» «So wünsche ich mir unten im Tale ein Gut, auf dem ich sorgenfrei leben kann ohne Mühe und Plage.»
Im Tale findet der Jäger, was er sich gewünscht: Ein schönes abgerundetes Gut, auf dem er sommern und wintern kann, fast unzählige Kühe und Rinder, die auf den Matten weiden ; mitten drin ein freundliches Haus mit Speicher und Stadel, Ställen und Scheunen; davor einen eingezäunten Garten mit Obstbäumen und Blumenbeeten; einen eigenen Brunnen und eine Bank unter schattiger Rebe; endlich, was ihm nicht am wenigsten gefällt: ein Butterfass, hoch wie ein Kirchturm, das weit hinausschaut über die Dächer seines Hofes und die Marken seines Gutes.
Noch am gleichen Abend bezieht der Jäger Waldin das neue Heim mit seiner einzigen Tochter, die er liebt wie sein eigenes Herz. Das Gewehr hängt er in der Stube an die Wand zu den Gemshörnern und Bärentatzen, den Siegeszeichen seiner frühen Jagden. Martin Waldin braucht nicht mehr zu jagen; er ist der reichste Mann im ganzen Tale. Seine Mitbürger übertragen ihm das höchste Amt, das sie vergeben können, das Amt des Meiers. Reichtum und Ehren im Überfluss; was soll sein Herz noch begehren?
Behaglich sitzt Meier Waldin unter der Rebe vor seinem Hause, während die Knechte und Mägde jeden Morgen und Abend mit dem Milchtuitel auf- und absteigen am hohen Butterfass. Nur eines kann den Jäger in seiner Ruhe stören, wenn er sehen muss, wie die Gemsen sich in den Bergen vermehren und so zahm werden, dass sie sogar auf seinen Hof kommen, um aus seinem Garten zu naschen und aus seinem Brunnen zu trinken. Wie gerne hätte er das Gewehr von der Wand genommen, aber es hielt ihn zurück der Vertrag mit dem Berggeist; er will um keinen Preis meineidig werden. Noch eines macht seinem Herzen schwere Sorge: wer wird einmal sein Eidam werden und sein Gut erben? Die Tochter hat ihm nie etwas verraten und er hat nie gewagt, sie darum zu fragen, zu sehr schmerzt ihn der Gedanke, sie werde dann nie mehr ihm allein gehören. Der reichste und angesehnste Mann im Tale muss es sein, er allein ist würdig des Meiers Waldin.
Meier Waldin verstand es auch, den Reichtum seines Hauses sehen zu lassen. Kein Durstiger ging auf der Talstrasse vorüber, ohne kühlenden Trunk, und kein Wanderer suchte hier vergeblich gastliche Herberge.
Häufig kam ein Hirte von Jeitzinen, um auf dem Gut des Meiers nach seinen verlaufenen Tieren zu frage Der Meier sah den Hirten nicht ungern, denn dieser wusste wie ein Buch zu erzählen und sang die schönsten Hirtenlieder mit glockenheller Stimme. Unvermerkt hatte sich der Hirte von Jeitzinen in das Herz der reichen Meierstochter eingezählt und eingesungen. Dem Meier musste es auffällig werden, dass der Hirte so oft auf seinem Hofe verweilte, und es war ihm auch nicht entgangen, dass die Blicke der zwei jungen Leute sich scheu und züchtig, aber gerne kreuzten. Er will die Tochter auf die Probe stellen.
Der Meier lässt vor jedes Fenster seines Hauses einen Stock setzen von vollen, feuerroten Nelken, nach Sonnenaufgang auf der Talseite und nach Sonnenuntergang gegen Jeitzinen. An der Pflege der Blumenstöcke musste offenbar werden, wohin das Herz der Tochter neigte, ob sie mehr den Gesellen des Tales oder dem Hirten von Jeitzinen zu gefallen suche. Bald sieht der Meier, dass die Nelken nach Sonnenaufgang, obwohl sie von der goldenen, milden Morgensonne jeden Tag geweckt werden, nicht so frisch bleiben, wie die nach Sonnenuntergang, die unter den sengenden Strahlen der heissen Abendsonne natürlicherweise eher welken mussten.
Es ist entschieden. Zwischen seiner Tochter und dem Hirten von Jeitzinen sind Liebesfäden gesponnen die er zerhauen will mit einem Schlage. Der reiche Meier vergisst, dass er selbst einmal ein armer Jäger gewesen. Reichtum und Ehren haben seinen Blick geblendet für die Wünsche zweier Herzen. Entschieden sagt er zu seiner Tochter: «Wenn du den Hirten von Jeitzinen heiratest können wir nicht beide auf diesem Gute bleiben.»
Aber der Zug des Herzens ist nicht zu bannen, ebenso wenig als der Wildbach, der vom Felsen in die Tiefe stürzt. Am Pfingstsonntag vernimmt der Meier von der Kanzel, dass seine Tochter entgegen seiner Warnung mit dem Hirten von Jeitzinen ein unzertrennliches Herzensbündnis abgeschlossen habe.
Den Meier duldet es nicht mehr in der Kirche. Rot vor Zorn eilt er heim, ergreift eine Hacke und fängt in seinem Garten an zu graben. In die tiefe Grube schleift er der Talschaft Geldschatz, wohl verwahrt hinter drei Schlössern in einem schön geschnitzten, mit Silber reich beschlagenen Kasten. Keine Zeugen sind dabei, die neugierigen Gemsen ausgenommen, denn alle Leute sind an dem hohen Festtag in der Kirche. Wie wahnsinnig stürzt der Meier in die Wohnstube, reisst die Büchse von der Wand und stürzt hinaus, von der alten Leidenschaft ergriffen, schiesst das schönste Tier und eilt fort, wie von einem bösen Geist getrieben. Der verhängnisvolle Schuss hat das Echo gewecktin den Felsenklüften der hochragenden Berge. Blitze zucken, Donner rollen, Felsen krachen, übertönt von der Stimme des Berggeistes:
Meineidiger, die Rache ist mein,
Dein schönes Gut werd dir zu Stein.
Wie die Brautleute aus der Kirche kommen, finden sie ihr schönes Heim bei Goppenstein versteinert, verschüttet und verwüstet. Nur mehr das Aichichiblin ragt hervor, zu hartem Stein geworden. Vergeblich suchen sie den Vater, um dessen Segen zu erbitten; er lässt sich nirgends finden. Bei den Roten Palmen hatten ihn Hirten zum letztenmal emporsteigen sehen.
Das reichste Brautpaar ist mit einem Schlage bettelarm geworden. Ihre Güter sind verwüstet und dazu ist noch der Talschaft Geldschatz, den der Meier zu verwalten hatte, spurlos verschwunden. Mit ihrer Hände Arbeit müssen sie denselben vollständig bis auf den letzten Rappen ersetzen. Heute noch ruht der reiche Schatz unter den Felstrümmern beim Aichichiblin und würde den Nachkommen von Meier Waldin gehören.
Vom Meier Waldin hat man nach vielen Jahren eine Spur gefunden. Holzhacker entdeckten in einem Grasband im Rotgebirg ein menschliches Gerippe, und dabei fanden sie eine Alptersla, die genau ins Scheit der Kummenalpe passte, genau an dem Ort wo der Name Meier Waldin eingeschrieben. Meier Waldin war hier gestorben, wo er einst den Vertrag mit dem Berggeist eingegangen. Darum wir heute noch der Ort zur Martinsklamm geheissen.
Auch den vergrabenen Geldschatz hat man seither einmal gesehen, aber die Gelegenheit verpasst, ihn zu ergreifen. Zwei Hütterinnen sahen einmal um die Mittagszeit beim Aichichiblin etwas glänzen: einen schön geschnitzten, mit Silber reich beschlagenen und mit drei Schlössern wohlverwahrten Kasten. Fragend schauten sie einander an; haben dadurch dem Schatze Aug abgebrochen und konnten ihn nicht mehr finden.
Heute sieht man von der ganzen Herrlichkeit des Meiers Waldin nur mehr in der Nähe von Goppenstein, dort wo die grössten Steinschläge und die gefährlichsten Lawinen niedergehen, das Aichichiblin als Andenken an die Treulosigkeit der Menschen und die Rache des Berggeists.
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.