Jetzt klopft es nochmals und viel stärker, als würden die Gletscher abfallen und die Berge umstürzen und das ganze Tal begraben. Mutter und Grossvater schauen besorgt nach den Fenstern und dann auf den Herrgott in der Stubenecke, ohne ein Wort zu sprechen. Sie horchen auf das Donnern und Krachen, das näher und näher kommt, doch nicht zu nahe. Wie sich endlich das Getöse verzogen hat, fängt ein Kleiner an zu flüstern:
«Ist das auch der alte Lötscher?»
«Oh nein, das ist das Lauwitier», sagt der Grossvater.
«Was ist das für ein Tier? Hast du auch schon ein Lauwitier geschossen?»
«Du Wundernase. Dieses Tier lässt jeder gerne gehen den es in Ruhe lässt. Wenn es dir nur nie begegnet.»
«Hast du das Lauwitier auch schon gesehen?»
«Mehr als einmal.»
«So erzähle uns vom Lauwitier.»
«Das Lauwitier wohnt zu hinterst in der Lötschenlücke. Im Winter kommt es heraus, springt über die höchsten Gräte, und wo es kann, bricht es eine Lawine. Es ist seine grösste Freude, mit den Schneemassen zu Tal zu fahren und auf dem Wege Scheunen und Ställe, Häuser und Menschen mitzunehmen. Ein solches Lauwitier hat das alte Tennmattendorf und auch das Dorf in der Winterbletschun verschüttet.»
Jetzt erzählt die Mutter vom Lauwitier, was sie von ihrer Grossmutter gehört hat. «In der Winterbletschun ist auch eine alte Spinnerin von einer Lawine aus den Hängen des Bietschhorns begraben worden. Erst im folgenden Sommer wurde die arme Frau von der Sonne freigeschmolzen. Sie war mit ihrem Spinnrad unter einem dicken Bindebalken unversehrt geblieben, hat sich selbst die Fingerspitzen abgegessen und ist dann verhungert.»
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.