Der alte Lötscher und das Lauwitier 1. Teil

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der alte Lötscher und das Lauwitier werden nur im Winter gesehen. Im Winter schneit es oft lange, lange. Die Jungen freuen sich, dass die Flocken sich immer höher türmen, bis die Dächer schwere Schneemäntel tragen und die Steine in der Lonza hohe Zuckerhüte. Aber mit Besorgnis schauen die Mutter und der Grossvater nach dem immer grauen Himmel, aus dem dicht die Flocken fallen, und nach den Bergen, an denen nur zeitweise die untern Waldränder sichtbar werden. Es sind nicht einmal mehr die Schneemesser zu sehen oben am Gletscher: Zwei schwarze Felsen, Kuh und Kalb geheissen. Schon die Alten sagten: «Wenn ihr das Kalb nicht mehr seht, dann flieht ins obere Dorf, denn sobald auch die Kuh eingeschneit ist, lebt im untern Dorf niemand mehr sicher.»

Um den Schrecken zu vermehren, fängt es noch an zu tosen in den Bergen. Besorgt zieht die Mutter die Fensterläden auf. Es wird in der Stube finster in der frühen Abendstunde. Die Mutter zündet das schwache Öllicht an und lässt alle niederknien zum Rosenkranzgebet. Bald fängt es draussen an zu klopfen, zuerst leise, dann stärker, immer stärker. Für einige Augenblicke scheint es aufzuhören, aber jetzt klopft es noch kräftiger an die Fensterläden. Die Kinder müssen sich fürchten, und doch sollten sie es nicht, denn die Mutter hat ja gesagt: «Es geschieht uns nichts Böses, wenn unschuldige Kinder beten.»

Nach dem Rosenkranz fragen die Kinder bange:

«Wer klopft so an die Fensterbalken?»

«Das ist der alte Lötscher», sagt der Grossvater.

«Wer ist der alte Lötscher?» fragen die Kinder und schmiegen sich enger an die Mutter und an den Grossvater.

Dieser muss es wissen. Er bleibt die Antwort auch nicht schuldig.

«Der alte Lötscher wohnt auf Grosskammern, oben am Langgletscher. Sobald es im Winter viel schneit, steht er auf, schüttelt den langen, weissen Bart, nimmt seinen Stock, schwer wie der stärkste Baum, und kommt herab ins Tal. Über den Anenbach schlägt er einen Steg von Eis, den Guggisee berührt er bloss mit seiner Keule, und er ist steinhart gefroren. Vom Guggistafel stürmt er herab auf Fafler, von dort ist er in drei Sprüngen auf der Hohen Platte, auf dem Seebord und auf der Hutfluh. Von hier juckt er wieder ins Tal, auf die Dörfer Eisten und Blatten. In allen Dörfern kommt er vorbei. Er schüttelt die Häuser an der Riedegge, nimmt in Wiler ein ganzes Dach als Trommel mit, tanzt in Kippel lustig um die Kirche auf

dem Martibiel. Nur bei Ferden überspringt er das Dorf, blast aber nochmals zurück, damit man nicht vergesse der alte Lötscher sei gekommen.»

«Ist der alte Lötscher auch böse?»

«Ja freilich. Wenn er ungehorsame Kinder draussen antrifft, nimmt er sie mit und versteckt sie, dass sie niemand mehr findet. Menschen, die zuviel getrunken haben und herumzwirfeln, schiebt er unter den Weg und hilft ihnen nicht mehr auf, mögen sie auch jammern, bis sie erfrieren. Nachtbuben, die den Eltern heimlich fortgelaufen sind, führt er in den tiefsten Schnee, wo sie den Weg verlieren.»

«Was tut er dem Vater auf dem Hirtweg?»

«Dem tut der alte Lötscher nichts zu leid, weil er weiss, dass er hirten (das Vieh verpflegen) muss.»

«Kommt der alte Lötscher nicht mehr zurück?»

«Oh freilich; ihr hört ihn ja schon wieder. Zuvorderst im Tale bläst der alte Lötscher zum Tal hinaus, kehrt um und geht zurück durch die Wälder auf der Schattenseite. Mit dem Stock schlägt er die dicksten Stämme nieder, darum sind die Holzfelinen in den Wäldern.»

«Gibt es mehr als einen alten Lötscher?»

«Nein, es ist nur einer, aber niemand kann zählen, wie oft er die gleiche Reise macht in einer Nacht.»

Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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