Ds Brächtschi heisst ein Berggut unter der Alpe Blühenden. Früher hat dort ein Haus gestanden, das durch ein Äbihejät vor Lawinen geschützt war. Der Besitzer des einsamen Heimetlis hiess der Brächtschimann, und sein Weib natürlich die Brächtschifrau. Weil die Leute kinderlos waren, haben sie um Gotteswillen einen armen Bub ins Haus genommen. Der Brächtschimann hoffte dadurch, sein Weib besser ans Heim zu fesseln. Sie ging nämlich gerne in die Familie des Balmenmanns zum Abendsitz. Das Heilmittel scheint aber nicht ganz verfangen zu haben. Einmal sagte der Balmenmann zum Brächtschimann: «Die Deine ist eine Rätschä.» «Ich werde schon darauf kommen, wer von euch beiden mehr rätscht», meinte etwas gereizt der Brächtschimann.
Eines Tages sagte der Brächtschimann zu seinem Weibe: «Ich habe etwas gemacht, was ich dir fast nicht sagen darf.» Sie hätte es doch um alles in der Welt gerne gewusst und liess ihm keine Ruhe, bis er ihr endlich sagte: «Ich werde dir alles offenbaren, wenn du mich nicht verraten willst.» «So wahr ich lebe. Wie kannst du solches von deinem Weibe vermuten?» Nun bekannte der Brächtschimann: «Ich habe einen erschlagen.» «Das wird doch nicht sein?» jammerte das Weib händeringend. «Wenn ich dir sage.» «Wo hast du ihn denn?»
«Er ist im Keller.» Der Brächtschimann wusste schon, dass sein Weib da nicht hineinschauen werde.
Diesmal trieb es die Brächtschifrau früher als gewöhnlich in den Abendsitz. Die Balmenfrau fühlte gleich, dass ihre Nachbarin etwas auf dem Herzen trage, und erkundigte sich teilnahmsvoll, wie es allen gehe: dem Mann und dem Zigbub in der Stube, den Geissen und Schafen im Stall, und den Erdäpfeln im Keller bei der grimmigen Kälte. «Den Erdäpfeln ist nichts geschehen, aber...» seufzte geheimnisvoll die Brächtschifrau. Die Balmenfrau schien das nicht recht bemerkt zu haben denn sie fuhr weiter: «Dieses Jahr wird unten im Tale etwas erapern, da die Lawinen Steine, Lärchwurzeln und Ahorngrotzen mitgenommen haben.» «Wenn es nur nichts Schlimmeres gäbe», seufzte neuerdings die Brächtschifrau. «Was ist denn wieder vorgekommen?» forschte nun neugierig die Balmenfrau. «Etwas, was ich nicht verraten darf», war die Antwort der andern. Es ist schwer zu sagen, welche von den beiden Frauen mehr litt, die Brächtschifrau unter der Last des Geheimnisses, oder die Balmenfrau unter dem Druck der Neugierde. Als endlich die Balmenfrau versprach, das Geheimnis mit ihr ins Grab zu nehmen, erfuhr sie, dass der Brächtschimann einen erschlagen habe Die Balmenfrau zog daraus den Schluss: «Wie das Tal verwildert, so versteinern auch die Menschenherzen.» Sie hätte auch die Lehre wissen sollen: wie eine kleine Gwächte eine grosse Lawine bricht, so verschuldet ein harmloses Wort oft das schlimmste Dorfgerede. Die Balmenfrau verriet das anvertraute Geheimnis wiederum ihrer Nachbarin unter der Bedingung, dass sie nie etwas davon über ihre Lippen kommen lasse. Diese gab es unter derselben Bedingung weiter. So wussten es bald alle Gevattern im Dorf. Diese fügten noch hinzu: «Er hat den Toten im Keller begraben.»
Kaum acht Tage sind vergangen, da kommt der Talschaft Meier mit den Geschworenen, um den Übeltäter zu fassen. Auf dem Wege sagen sie noch zueinander: «Wer darf den Mann zuerst angreifen?» Sie wissen nämlich alle, dass am Hause des Brächtschimanns immer ganze Tannen lehnen, die dieser allein heimgetragen hat. Vor dem Hause treffen sie den Zigbub des Brächtschimanns beim Holzspalten. Diesen fragen sie: «Ist der Vater daheim?»
«Er ist in der Stube», lautet die Antwort. Nun offenbaren sie dem Buben, der Vater habe ein grosses Verbrechen begangen; er müsse ihnen helfen, denselben zu fangen. Zuerst besinnt sich der Lausbub ; wie sie ihm aber Geld zeigen, geht er in die Stube und fängt an, mit dem Vater Kurzweil zu treiben. Aus Spass bindet er ihm sogar die Hände und ruft nun den Männern, sie sollen nur hereinkommen. Jetzt dürfen auch die Wächter des Gesetzes die Stube betreten. Der Meier stellt sofort im Namen der Gerechtigkeit die Frage: «Ist es wahr, dass du einen erschlagen hast?»
«Ja, es ist wahr», bekannte der Brächtschimann mit fester Stimme, «ich will euch den Erschlagenen zeigen». Er geht mit den Hütern der Ordnung in den Keller und zeigt ihnen den Toten: seinen übergehenden Schynbock, den er geschlachtet und eingesalzen hatte. Damit der Meier und seine Begleiter nicht vergeblich bis ins Brächtschi gekommen seien, gibt ihnen der Brächtschimann noch den guten Rat: «Keiner soll seinem Weibe etwas verraten, was er nicht will unter die Leute kommen lassen.» Zum Zigbuben aber sagt er: «Du kannst nun mit diesen gehen, denen du geholfen hast; sie sollen dir jetzt auch helfen.»
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
siehe auch: "Der Brätschimann"
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.