Z`r Tärrun heisst ein Berggut zwischen Weissenried und Wiler im Lötschental. Das Gut hat früher dem Michel von Ried gehört, der ein vermöglicher Bauer war. Auf dem abgelegenen Berggut hat Michel jeden Winter das erste Heu geetzt (verfüttert). Einmal, als bei ihm der Waldbruder eingekehrt war, hat sein Nachbar Nazhans für ihn gehirtet (das Vieh besorgt). In dem engen Stübchen mit den drei Fensterlein ist er über Nacht geblieben. Nicht alle hätten auf dem einsamen Berggut mutterseelallein übernachten dürfen. Aber Nazhans war ein grosser, starker Mann, der sich weder vor Lebenden noch vor Toten fürchten konnte. Schon manche Nacht hatte er als Jäger unter Felsschipfen (-Vorsprüngen) und sogar am
Rande der Gletscher, in denen die armen Seelen zu Pein geschlagen leiden übernachtet. An keinem Ort ist ihm jemals begegnet, was sich ihm diese Nacht zutragen sollte.
Nazhans hat, wie es im Tale Brauch ist, vor Schlafen gehen noch auf den Knien auf den Ahorntisch gestützt den Rosenkranz gebetet. Zuletzt hat er den armen Seelen Weihwasser gegeben und mit lauter, starker Stimme die ewige Ruhe gewünscht. Ohne Furcht hat er das Licht ausgeblasen und sich zur Ruhe begeben.
In der Nacht ist Nazhans erwacht. Hat es nicht an die östliche Wand geklopft? Bevor der Hirte etwas Gutes oder Böses denken konnte, sind schon Haustüre und Stubentüre aufgegangen. Wie zur Abwehr streckte der Hirte den rechten Arm aus. Da ward ihm, als drücke auf seine Rechte eine andere, eiskalte Hand, noch eine, noch eine, mehr als zwanzig, mehr als hundert Hände, ohne dass er sich wehren oder in der Dunkelheit jemand unterscheiden konnte. Als endlich die Türen wieder zufielen, und Nazhans den Arm wieder zurückziehen konnte unter die Bettdecke, war seine eigene Hand gletscherkalt geworden. Am andern Morgen suchte er im frischgefallenen Schnee vergeblich die Spuren der nächtlichen Besucher. Soviel stand nun bei ihm fest: «Hier werde ich nie mehr übernachten.»
Daheim sagte Nazhans vorwurfsvoll zum Nachbarn Michel: «Du hättest mir sagen dürfen, dass das Haus z`r Tärrun nicht dir allein gehört.» «Ja wahrhaftig, ich teile es manche Nacht mit den armen Seelen. Ich reiche ihnen meine Hand, damit sie daran wenigsten für einige Augenblicke ihre frierenden Hände erwärmen können. Es darf dich nicht betrüben, dass du den armen Seelen auch diesen Liebesdienst erwiesen hast. Die armen Seelen vergessen nichts. Sie werden dir auch einmal die Hand reichen».
Nazhans hat nicht mehr an die kalte Hand gedacht Einige Jahre später ist Nazhans einmal im Mittliwald durch den breiten Graben des Mühlebachs gegangen Es war im Hornung, wo die Tage schon länger werden und die Sonnenstrahlen den harten Schnee erweichen. Wie er mitten in die Halde kam, die von Fluhmatten gegen den Mühlebach abfällt, hörte er über sich einen Chlapf (Knall) und gewahrte zu seinem Schrecken hoch oben in der Halde einen mannhohen, breiten Bruch in der weissen Schneedecke. Eine Gwächte hatte sich eben gelöst, fuhr nun zischend auf ihn los, nahm ihm beide Beine und stürzte mit ihm über Flühe und Hänge donnernd und krachend, Steine und Stämme mitreissend in rasenden Sprüngen dem Talgrund zu. Wiederholt wälzten sich schwere Schneemengen auf den wehrlosen Mann, der nur die rechte Hand ausstrecken konnte. Jedesmal, wenn er zu ersticken drohte, zog ihn eine kalte Hand empor und setzte ihn wieder auf die rollende Lawine. Erst in den Binden oberhalb Wiler breiteten sich die Schneemassen aus und blieben stehen. Einmal dem weissen Grab entronnen, erinnert sich der frühere Hirte z’r Tärrun an die Weissagung vom Nachbarn Michel: «Die armen Seelen werden dir auch einmal die Hand reichen.»
Heute steht neben dem Bergstübchen z’r Tärrun ein freundliches Bethäuschen zu Ehren des heiligen Joseph. Hinter dem Eisengitter brennt manche Nacht ein Lichtlein zum Troste der armen Seelen.
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.