Das Gletscherseeli

Land: Schweiz
Region: westlich Raron, Lötschental
Kategorie: Sage

Das Gletscherseeli haben nicht alle gesehen, es liegt hoch oben auf dem Grat am kleinen Hockenhorn. Weit ab vom Wege der Menschen schläft es ungestört den ganzen langen Winter in seinem Gletscherbett unter der dichten Firndecke. Erst im hohen Sommer, wenn im Tale bald die Ähren reifen, öffnet das Gletscherseelein an warmen Nachmittagen sein grosses, rundes Auge und schaut verwundert nach der warmen Sonne am blauen Himmel, nach den unzähligen Bergesspitzen, nach dem Felskoloss, der schon Jahrtausende Wache steht zu seiner Seite und nach dem Menschenkind, das zaghaft am schmalen Rand vorüberschreitet, als fürchte es, das Gletscherseelein zu treten. Glücklich der Mensch, der mit hellem und reinem Auge sich spiegeln darf im kristallenen, blau und grün umrahmten Augenstern des Gletscherseeleins. Einer solch glücklichen, makellosen Seele lächelt das Gletscherseelein freundlich zu, während es sich umflort beim Anblick eines bösen Menschen.

Das Gletscherseelein ist selbst ein Geheimnis und birgt wunderbare Geheimnisse in seiner Tiefe. Woher hat es sein klares Wasser, hoch oben auf dem Grat, wo nur die Winde Schneeflocken treiben, und wo keine Quellen rauschen? Das wüssten die armen Seelen zu sagen, die in grosser Zahl in der Tiefe des Gletscherseeleins frieren und weinen, seufzen und nach Erlösung schmachten. Von ihren Tränen wird das Gletscherseelein gespeist, darum sind seine Wasser so klar und hell, so lauter und so rein.

Die armen Seelen im Gletscherseelein sind einmal lustige Menschen gewesen. Jünglinge und Jungfrauen, die in Alphütten und Bergstübchen lachten und scherzten, die mit ihren schönen falschen Augen andere lockten zu heimlichen Abendsitzen und Schmausereien, Zittelabenden und Tänzen. Jetzt müssen sie hier Reue- und Sühnetränen vergiessen für alle ungeziemenden Gedanken und Begierden, für alle leichtfertigen Blicke und losen Worte, mit denen sie andere narrten und verführten, und für alle Schweisstropfen, die auf den Tanzboden geflossen. Erst mit der letzten Reueträne fliegen sie in einer hellen Winternacht, völlig geläutert und gereinigt, selbst licht geworden wie ein Stern, hoch über die Sterne zu ihrem Schöpfer und Beseliger.

Es gibt aber Seelen, deren Tränen in der eisigen Wildnis Jahre lang fliessen, vielleicht Hunderte von Jahren. In mondhellen Nächten kommen sie herauf aus ihrem kalten Kerker und reichen sich die bleichen Hände zu einem Tanz, zuerst um den schwindligen Rand des Gletscherseeleins. Je mehr Seelen heraufsteigen, um so länger wird die Kette, bis der Reigen das kleine und das grosse Hockenhorn umspannt. Kein Boden stöhnt, keine Musik spielt und kein Jauchzer erschallt, nur die Tränen fallen ohne Unterbruch auf den Schnee und wandeln sich bei der eisigen Kälte in glitzernde Kristalle, Sterne und Sternlein. Wie er gewachsen, so nimmt der Reigen wieder ab bis er sich nur mehr bewegt um den Rand des Gletscherseeleins, und bis endlich die letzte Seele wieder hinabsteigt in die geheimnisvolle Tiefe. Am Morgen beim ersten goldenen Sonnenblick glänzen noch die kristallenen Tränen, vergehen aber schnell als letztes Andenken an den nächtlichen Reigen.

In stürmischen Winternächten müssen die armen Seelen heulend mit dem brausenden Sturm vorbeisausen über die Berg- und Alpentriften, die Schauplätze ihrer früheren Sünden. An den Hütten müssen sie vorbei, an den Scheunen, Ställen und Stübchen, wo sie einst in jugendlichem Übermut schwelgten. Warnen müssen sie die Lebenden, Türen und Fenster fest zu schliessen, die Abendsitze aufzuheben, die Lichter auszulöschen, sich dem Schutzengel zu empfehlen, und an das Ende aller Dinge zu denken.

Einmal im heissen Sommer ist am Fusse des Hockenhorns ein lustiger Abendsitz gewesen. Der Spielmann durfte etwas kosten, aufgetischt wurde was Küche und Keller vermögen, es musste hoch hergehen, denn auch von andern Gemeinden waren Gesellen eingeladen. In dem engen Stübchen ist es heiss zum Glasschmelzen, so dass die Schweisstropfen sich zu allen Poren drängen. Mitten im Tanze geht die Türe auf, eine weisse Gestalt ist wie in einem Gedanken über die Schwelle  reingekommen und hat sich auf der Ofenbank niedergelassen, laut jammernd:

O wie kalt, o wie kalt

Und ich muss heute noch bis in den höchsten Grat.

Augenblicklich war es in der dampfend heissen Stube gletscherkalt geworden, dass der Schweiss an den erbleichten Wangen erstarrte, und die erschreckte Gesellschaft zitterte vor Kälte. Die arme Seele aus dem Gletscherseelein wollte die jungen Leute am kleinen Finger spüren lassen, welche Pein die Tanzenden erwartet. Für diesen Abend war die Gesellschaft aufgehoben.

Wie alle andern, so musste auch dieses Erlebnis als verborgenes Geheimnis von Ohr zu Ohr wandern, bis es plötzlich auf dem Dorfplatz stand am hellen Tage. Ein neulich aus der Fremde heimgekehrter Soldat tat gross mit seinem Unglauben. Aber als aufgeklärter Geist musste er der Wahrheit auf den Grund kommen.

Eines schönen Morgens sieht man ihn mit dem treuen Gewehr an der Schulter und dem stolzen Federbusch auf dem Hute auf dem Weg zum Gletscherseeli. Am Rand des vom frostigen Nachtwind eisumflorten Gletscherauges nimmt er den schweren Stutzen in die Rechte, legt die Linke auf die Brust, und als gelte es den ganzen weiten Kreis der Berge als Zeugen anzurufen, ruft er mit starker Stimme:

Ist etwas an der Zellätun Von den armen Seelen,

So soll es mir ein Zeichen tun Und jawohl nicht fehlen.

Bei diesen Worten stösst der tapfere Soldat den Gewehrkolben durch die dünne Eisschicht und zieht ihn zurück. Darf er seinen Augen glauben? Der Kolben ist abgeschmolzen, so weit er in das Wasser reichte. Von dieser Zeit an hat auch der Soldat nie mehr gezweifelt an den armen Seelen im Gletscherseeli.

Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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