Das Seemannli

Land: Schweiz
Region: westlich Raron, Lötschental
Kategorie: Sage

Das Seemannli vom Stampach hat einmal einem Jäger von Eisten einen zweifelhaften Dienst erwiesen. Der Jäger wollte am Rande des Stampachgletschers am Bergsee vorübergehen. In der Randmoräne des Sees sieht er das Seemannli in grauen Stiefeln, blauem Frack und Zipfelmütze forschend nach der Tiefe schauen. Der Jäger sieht sich schon bemerkt, und um nicht die Gunst des Seemannli zu verscherzen, redet er es freundlich an: «Was suchst du, grosser König der Berge, da unten, wo die Menschen wohnen?»

«Habe das Bett zu kurz, die Schuh zu eng,

Bald streck ich mich aus über Wald und Weng.»

Das hat der Jäger verstanden. Der Berggeist will seinem See einen Abfluss suchen über die gezierten Güter. Was soll aus seinen besten Wiesen werden, gelegen am Fusse des Berges, in den Bleicken, der schönsten Lage im ganzen Tale? Die Angst treibt ihn schnell weiter und zeigt ihm einen listigen Ausweg.

Am andern Tage ist die Kühmattkirchweihe, ein Feiertag für die ganze Talschaft. Gruppenweise kommen schon in den Morgenstunden die Bewohner der äussern Gemeinden in ihrem schwarzen Sonntagsstaat in Eisten vorüber. Der Jäger sitzt vor seinem Hause an der Talstrasse, grüsst alle Vorübergehenden, wie aber der Meier aus Ferden kommt, der reichste Mann des ganzen Tales, hat er einen besonders freundlichen Gruss. Nicht Amt und Würde bewegen ihn dazu, vielmehr der schwere Geldsack.

Der Jäger versteht es, sich unauffällig dem Reichen anzuschliessen, denn seine Zunge zielt nicht schlechter als sein Auge, und das Gespräch auf das schöne Gut unter dem Stampach zu lenken. Der Reiche meint: «Ich habe Güter überall im ganzen Tal, in den schönsten Matten ausgenommen, willst du mir dein Gut verkaufen?»

Die Gelegenheit ist günstig, von dem gefährdeten Gut los zu werden. Beide meinen im Handel zu gewinnen, was sonst selten der Fall ist. Der reiche Mann bezahlt noch am gleichen Abend mit barem Golde, und der andere freut sich des Schatzes, den er gefunden wähnte. Aber er sollte sich daran noch arg verbrennen.

In der folgenden Nacht fängt es in den Bergen an zu dröhnen, als ob die Felsen unter dem Gletscher zermalmt würden. Ein Geruch von frisch aufgewühlter Erde und von gemahlenen Felsen steigt bis in die Dörfer Blatten und Eisten und bis hoch hinauf zur Tellialpe. «Das ist der Stampach», sagen alle, «Gott beschütze unsere Matten in den Bleicken. »In Angst und Schrecken erwarten alle den nächsten Morgen, in der Nacht wagt niemand, dem tosenden Bach nahe zu kommen.

Welch einen Anblick bietet der schöne Sommermorgen, der sich friedlich ins Tal senkt. Vom Stampachchinn bis zur Lonza hat der Stampach braunen Schutt über die grünen Wiesen ausgestossen. Mitten in einer tiefen Rinne fliesst der Bach, der jetzt stiller geworden. Die Lonza hat ihren Lauf verändert, ist bis an die Felsen gedrückt und hat beide Brücken fortgetragen.

Bald erfährt man das Geheimnis der grossen Verwüstung. Der Bergsee unter dem Stampachgletscher ist ausgebrochen, hat die Moränen aufgegraben und fortgeschwemmt in die Talsohle. Das hätte ihnen der Jäger von Eisten vorher sagen können. Was hätte es aber genützt? Er selbst ist seines Wissens und seiner List nicht froh geworden. Diese haben einen bösen Wurm angesetzt in seinem Herzen, den Wurm des bösen Gewissens. Er wagt das gewonnene Gold nicht mehr anzuschauen, vergiss denn anzurühren. Immerfort quält ihn der Gedanke: «Du hättest dem Käufer alles sagen sollen, du darfst das Geld nicht behalten.»

Um Ruhe zu haben, geht der Jäger unverzüglich zu dem reichen Manne nach Ferden, legt das Gold auf den Tisch und sagt: «Das Geld gehört nicht mir, denn ich habe es durch List bekommen. Ich habe gewusst, dass der See ausbrechen werde und das Gut verwüsten.» Der reiche Mann wollte aber auch nichts zurücknehmen und schenkte alles dem Jäger, was dieser etwa ungerecht haben sollte.

Mit dem Verlust des Geldes hat er seinen Stolz gebüsst, und der Jäger sein Verschweigen mit der Qual des bösen Gewissens.

Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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