Der Millerstein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zwischen den Dörfern Blatten und Eisten ist die Milinegga. So heisst der Ort, weil hier früher die Dorfmühle gestanden. Besorgt hat die Mühle seit Menschengedenken der alte Müller von Eisten, das heisst, er hätte sie besorgen müssen, wenn nicht ein anderer für ihn gearbeitet hätte.

Mochte nämlich der alte Müller am Abend noch so viele Säcke Roggen oder Gerste in die Mühle stellen, am andern Morgen war immer alles gemahlen, aufgefasst, zugebunden und sogar abgestäubt, ohne dass er dabei sein oder auch nur den kleinen Finger hätte rühren müssen. Das wunderte den alten Müller doch, wer ihm die Mühle so flott besorge.

Eines Abends versteckt er sich hinter dem Mühlekasten und guckt durch ein Bohrerloch, um den nächtlichen Gast zu beobachten und zu belauschen. Richtig geht die Türe

auf und es erscheint ein Zwerglein, dessen Hosen, hätte es solche gehabt, sogar dem kleinen Josi zu kurz gewesen wären. Frisch und flink hebt das Männlein die schweren Säcke auf die Trommel, schüttet sie aus und lässt die Mühle laufen mit einer Geschwindigkeit, dass sich die Schläge nicht mehr zählen lassen. Sack um Sack wird oben ausgeleert, unten wieder eingefüllt und in Reih und Glied gestellt. In zehn Tagen hätte der Müller die gleiche Arbeit nicht besser besorgt, als der Zwerg in wenig Stunden. Bevor in der Früh die Eistglocke ertönt, ist das Zwerglein fertig und fort in die finstere Nacht.

Daheim erzählt der alte Müller seinem Weibe vom dienstbaren Geist in der Mühle. «Bald kommt das frohe Weihnachtsfest. Der Zwerg kennt wohl kein Christkindlein. Was ist billiger, als dass wir ihm etwas schenken?»

Die Mutter macht nun aus Trillich Röcklein und Höslein, klein und fein, mit Taschen und Schlitzen, Schnallen und Knöpfen, alles glänzend neu. «Hat mir Gott kein Kind geschenkt, so soll es jetzt das Zwerglein sein.» Freudig nimmt der alte Müller das Geschenk, als wäre es für ihn selbst gemacht und bringt es flink zur Mühle. Arbeit macht er heute keine bereit, denn es ist der Vorabend vom hohen Weihnachtsfest, den alle feiern müssen. Schön werden die Geschenke auf dem Dreibeiner aufgelegt, zuoberst die wollgestickte Zipfelmütze.

Wie gewohnt kommt das Zwerglein, schaut verwundert, legt die Kleider an, dreht sich dreimal um, springt und singt:

Das ist fein, das ist mein,

Jetz bin ich ä rächtä Ma

Na hinad hin niämer meh da.

Was fällt dem Zwerge ein? Von der Mühle lüpft er wie ein Käsbrett den schweren Mühlestein mit dem Läufer obendrein, setzt die Mütze drauf und ist zur Tür hinaus, bevor der Müller sich regen kann, seinem Eigentum zu wehren.

Der Müller hat später seine Steine wiedergefunden, aber zu weit weg, um sie zurückzubringen auf die Milinegga. Der freche Zwerg war nämlich in der heiligen Nacht mit den zwei Mühlsteinen auf dem Haupte über die Berggüter und Alpen emporgestiegen bis ins Obere Ferden. Wie er den Fuss auf den höchsten Grat setzte, wo man hinabsteigt nach Leukerbad, schlugen eben in Kippel die Glocken an, die Weihnachtsmesse einzuläuten. Der Dieb konnte keinen Schritt weiter, musste die schweren Steine fallen lassen und im nahen Majinghorn gebannt bleiben.

An schönen Sommertagen, wenn die Sennerinnen von Kummen im Obern Ferden die Kühe hüten, hören sie das Zwerglein aus dem Majinghorn Steine auf den Gletscher rollen, können aber nichts sehen. Nur in stürmischen Nächten springt der Dieb herab auf den Bergsattel, lüpft die schweren Steine auf das Haupt, wie einst in der Mühle. So muss er stehen solange der Sturm die schweren Blöcke treibt, dass man sie donnernd mahlen hört bis an den Kummenstafel.

Wer seither über den Berg geht, sieht die Steine auf der Wasserscheide zwischen Leukerbad und Lötschen. Der Ort heisst heute noch «Beim Millerstein», und die Hirten von Kummen pflegen heute noch zu sagen:

Du findest kein Zwerglein so brav und so gut,

Das hätte nicht seinen Tuck unter dem Hut.

Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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