Die weisse Frau - Sitten

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Anna war die reichste und schönste Frau der Stadt Sitten, und das will etwas bedeuten. Auf dem jähen Felsen von Tourbillon neben dem Flügel von Valeria hatte sie ihre Wohnung und trug immerfort, nicht bloss bei Taufen und Hochzeiten, ein Kleid, weiss wie der Schnee. Darum wurde sie vom Volk die Weisse Frau geheissen.

Allemal, wenn vom Lemansee herauf der Frühling ins Rhonetal einzog, schaute die Weisse Frau voll Sehnsucht nach den Oberwalliser Bergen. Dort war sie geboren worden, und dort war auch ihr Herz geblieben. Eines Tages ist sie plötzlich fortgegangen, um den schönsten Ort im Lande zu ihrem Sommersitz zu wählen. Alle Täler hatte sie durchstreift und alle Gräte überstiegen. Auf den südlichen Bergen hatte der Föhn sie vertrieben, und auf den nördlichen ihr der Nordwind zu kräftig ins Gesicht geblasen. Auf der Suche kam sie bis an den Ort, wo die weissen Bäche vom Langen Gletscher, vom Grosshorn und vom Beichgrat tosend in einander schäumen.

Hier findet die Weisse Frau was sie längst gesucht: Bergseelein mit silberhellem Spiegel, kristallene Quellen und Gletschergrotten mit himmelblauen Wänden. Kein Wunder, dass die Weisse Frau hier ihre zweite Heimat findet, wo die ersten Strahlen der blitzenden Morgensonne sie wecken, und wo im Kreise der Berge das letzte Abendrot ihre weisse Gestalt vergoldet.

An dem glücklichen Ort baut Frau Anna ein Haus und legt einen Garten an mit Bäumen, wie sie sonst nur in der Ebene wachsen. Die Weisse Frau freut sich, dass unter ihrer Pflege der Garten grünt und blüht, aber ihrem Glücke fehlt die Krone: Sie fühlt die Einsamkeit, das Unglück vieler Menschen. Kein einziger will ihr Paradies betreten. Die Hirten der Guggin- und Gletscheralpe treiben ihre Tiere nur bis zu den angrenzenden Bächen, und Jäger machen lieber einen Umweg über die schroffen Felsen oder über die tief zerrissenen Gletscher. Es muss sein, dass sich alle gegen die unbekannte fremde Frau verschworen haben.

«Hassen mich die Menschen, so sollen wenigstens die Tiere mein Paradies geniessen», sagt Frau Anna und lockt die Gemsen aus allen Revieren auf ihre blumenreichen Weiden.

Vergeblich suchen die Jäger alle Berge ab, Frau Anna hat alles Wild in ihren Bann geschlagen.

Eines Tages stellt sich stolz der kühnste Jägersmann vor die hohe Gestalt der Weissen Frau und sagt: «Ich bin nicht gewohnt zu betteln. Ich kaufe die Tiere zurück, die du mit List gewonnen.»

Nicht weniger stolz mustert ihn die Weisse Frau vom gekrümmten Federbusch bis zu den Silberschnallen und nennt den Preis:

Für jedis Tiär ä Schalluchuä,

Di jungi Hirt oich nuch derzuä.

 

(für jedes Tier die Schellenkuh,

den jungen Hirten auch dazu.)

So reich sind alle Jäger zusammen nicht. Mit gehängtem Kopf kommt der Jäger zurück und setzt sich auf einen geschliffenen Geisberger (erratischer Block) mit dem der Gletscher einmal Steine gemahlen. So findet ihn der Hirt von Gugginen und fragt nach dem Kummer seines Herzens.

«Du hast ein Herz zu hart, um mir zu helfen, sonst würdest du die Kühe nicht hier auf der magern Weide quälen, während jenseits des Baches die Gemsen im hohen Grase mit einander stossen.»

«Mein Herz ist nicht von Stein, aber ich weiss, dass Gehorsam mehr Segen bringt, als die besten Weiden. Es ist mir verboten, den Steg zum Gut der Weissen Frau zu betreten.

«Sei kein Kind. Setz dich auf die erste Schellenkuh, und du brauchst gegen kein Gebot zu fehlen.»

Wie ein böser Geist treibt der Hirte alle Kühe zusammen. Sobald er auf der ersten Schellenkuh an der Spitze seiner Herde über den Steg in das schöne Gut einreitet, fliehen vor ihm die Gemsen in die Felsen und in die Berge.

Was findet der Hirt von Gugginen im Paradies der Frau Anna? Die Weisse Frau ist freigebig, aber stolz und kalt, als hätte sie kein Herz im Leibe. Schon wäre er gerne zurück bei den armen, aber liebevollen Menschen. Die Weisse Frau lässt ihn nicht mehr ziehen. Jeden Tag vertröstet sie ihn auf den kommenden Morgen.

Ja, der nächste Morgen soll es sein, denkt der Hirt. In der Nacht verstopft er mit Gras den Kühen die Schellen, um beim ersten Morgengrauen lautlos und ungesehen die Herde zurückzutreiben.

Dem schlaflosen Hirten wird die Nacht unbändig lang, kalt und immer kälter. Am Morgen sieht er die Gletscher aus der Lötschenlücke vom Grosshorn und vom Beichpass ineinander verschlungen wie die Leiber dreier Riesendrachen. Die Eiswände sind so steil und schroff getürmt, so tief zerklüftet und zerspalten, dass kein Menschenfuss den Weg darüber findet. Die Sonne geht auf wie alle Tage, aber ihre Strahlen bleiben zwischen den Gletschern so kalt, dass sie weder erwärmen noch beleben. Die Brunnen bleiben zugefroren und die Gräser abgestorben. Die Kühe sind bei offenen Augen stehend erstarrt und nicht einmal umgefallen. «O gute Weisse Frau, erbarme dich des armen, verführten Hirten und löse diesen bösen Zauber.»

Aber die Weisse Frau hat keine Macht, das Unheil zu beschwören. Sie kann die Gletscher in hundert Jahren nicht schmelzen lassen, die sie in einer Nacht gerufen. Sie muss sehen, wie der Hirt vor Heimweh vergeht, fern von den Lieben. Nach wenigen Tagen muss sie sein im Tode erstarrtes Antlitz mit einem weissen Leichentuch bedecken.

Frau Anna darf nicht einmal selbst in dem vereisten Paradiese bleiben. Der Fluch treibt sie auf den höchsten Felsen, wo sie seufzt und weint, bis ihre Tränen den harten Stein glatt geschliffen und tiefe Rinnen darin gezogen haben.

Seither sind die Gletscher wieder abgeschmolzen und die Quellen aufgetaut, der Rasen ist wieder grün geworden und über den Rand des Gletscherbaches neigen sich Wachholdersträuche und Alpenrosen. Aber das verlorene Paradies der Weissen Frau vermögen die warmen Sonnenstrahlen nicht in seiner frühen Pracht hervorzuzaubern. Von ihrem Hause sieht man heute nur mehr zerfallenes, halb mit Moos überzogenes Gemäuer. Die Menschen fliehen heute noch den Ort, fast wie zu Frau Annas Zeiten.

Wohl kommen Hirten und Jäger heute noch hier vorbei, und setzen sich an der Sonne nieder, umfächelt vom kühlen Hauch der nahen Gletscher. Aber kein Hirte lässt hier seit Menschengedenken seine Tiere über Nacht bleiben, kein Jäger sucht hier mehr eine Nachtherberge unter dem Dach eines schützenden Felsens.

Inzwischen sitzt die Weisse Frau immer noch auf dem höchsten Felsen zu Pein geschlagen. Sie schaut nicht mehr, ob der Garten blühe, der ihre Freude und ihr Leid geworden. Sie schaut nach den Gletschern, ob diese nicht bald vorstossen ins Tal. Sie weiss nämlich, dass wenn die Gletscher wiederum das ganze Lötschental anfüllen, ins Rhonetal vorstossen und mit ihrer Zunge die Felsen von Tourbillon und Valeria lecken werden, die Stunde ihrer Erlösung schlage. Sie darf dann aufstehen von dem harten Stein und ihre alte Heimat aufsuchen auf dem Hügel über Sitten. Bis dahin wird noch mancher heisse Sommer und mancher kalte Winter vergehen, wird noch mancher Hirte von Gugginen hinüberschauen nach den Weiden des verlorenen Paradieses, die heute noch «die Anen» heissen.

Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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