Oben in den saftgrünen Sausmatten, wo jetzt ein guter Steg über das Wasser leitet, war einst, wie man erzählt, vortreffliche Weide, und der Bachruns war noch nicht so tief, noch nicht so breit von Wellen ausgefressen. Da hirtete auf dem linken Ufer ein schönes Mädchen von Isenfluh, auf dem rechten gegenüber ein wackerer Jüngling von Mürren, und beide gewannen sich herzlich lieb. Am Bache stehend sprachen sie gar oft zusammen, und über die vorragenden Steine in seinem Lauf hüpfte leicht der rüstige Knabe hinweg zu der guten Schäferin. Da kam’s an einem Tage, dass der Bach, gewaltig angelaufen, breiter war als sonst und alle Felsenstücke fortriss oder drohend übertoste. Die Liebenden am Ufer riefen kosend sich mancherlei zu; denn überzuschreiten verbot die augenscheinlichste Gefahr, in allem Scherzen aber fingen die zwei Fröhlichen mit Rasenstücken sich zu werfen an, und kräftig riss der Hirt eine Handvoll aus dem Boden, meinte, dass alles locker sei, schleuderte es nach drüben, trat das unachtsame Kind an die Schläfe, sah es stürzen und erriet verzweifelnd, dass ein Stein verborgen an den Wurzeln der geworfenen Scholle hing. Er stürzte sich mutig in den Bach und arbeitete sich kühn nach jenseits und kletterte zu der Geliebten hinauf.
Vergebens wollte er sie beleben; vergebens rief er hundertmal ihren Namen in das Echo der Klüfte. Sie lag bleich und bewusstlos vor seinen Augen; er besprengte sie mit Wasser; sie blickte verzeihend auf, und ihr Atem schwand. Da befiel den schuldlosen Hirten unaussprechliche Trauer. Nicht mehr heim wollte er kehren ins väterliche Dorf. Das schöne Mägdlein ward bestattet, wo es hingefallen, und der Hirt erbaute sich ein Hüttchen an dem Grab, blieb lebenslang zur Stelle, harrte früh und spät in heissem Beten aus und starb nach wenigen Jahren eben da, wo seine Freude gestorben war.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.