In Mürren, dem Dorf über dem Abgrund, greift des Bauers Sense bis auf die vorderste Fluhkante, und da blüht auch die letzte Zeile der Kartoffelstauden wie ein Mejenbeet.
Keinem Bergbauern ist es je eingefallen, hier einen Hag zu errichten; der ist ja nur für das Gvicht, der Mensch, der kann selber schauen, wo er tritt und dass er nicht fällt.
In alten Zeiten, als kaum anderthalb Dutzend sonnenbrandbraune Holzhäuser standen, führte der Allmiholzschleif über das Raindli im Dorf in der Richtung gegen die Balmen ob dem Abgrund.
Zu Schneeszeiten warnte jede Mutter ihre Kinder vor dem Schlitteln im Holzschleif beim Mondenschein, denn in diesen Höhen oben giesst das grosse Nachtgestirn einen besonders hellen, trügerischen Glanz über die weiten, glitzernden Felder. Und am Rande wartet das Verderben auf unfolgsame Kinder.
An einem mondhellen Winterabend zogen Mürrenkinder heimlicherweise einen grossen Handschlitten aus einem Holzscherm. Unten auf den Balmen ritten sie darauf nach Herzenslust, Auf knirschenden Kufen glitt ein grosser Haufen junge Seligkeit weichwellige Hügel hinab. Das kicherte und lachte und quietschte vor lauter Lust! Der älteste Bube umfasste mit kräftigen Fingern die Hörner des Handschlittens und wies ihm mit leicht gespreizten Beinen den stiebenden Weg.
Auf einmal, als die Kinder sich oben wieder auf den Schlitten setzen wollten, erschien in der weissen Welt hinter einer Bodenwelle hervor ein grasgrünes Männdi. Es herrschte sie an: "So, jetzt will ich euch den Handscher auch einmal weisen!" Sie wagten keine Gegenrede. Nun ergriff dieses die Schlittenhörner und wies der fröhlichen Fuhr den Weg. Huii — wie war das ein schauerlichwohliges Sausen im harschen Schnee! Aufs Mal glitt das Männdi mit der ganzen Schlittneten hinunter auf die Fluh.
Ein Meitschi, das hinten sass, erkannte im allerletzten Augenblick, zuvorderst auf dem Rand die Gefahr und rief: "Oh, Herr Jesses, Herr Jesses!" und liess sich vom Schlitten fallen. Mit den andern fuhr der Unhold über die so grausam hohe Wand zweieinhalbtausend Fuss hinunter in Tod und Ewigkeit.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.