Seit altersher horsteten die Adler in den Wildflühen der Sätze im Trümmletental. Über beide Scheideggen und bis nach Kien und Lötschen glitten die gefrässigen Vögel auf ihren Raubflügen. Alles Feder- und Haarwild und Lämmer und Zicklein auf der Sommerweide schraken zusammen und suchten Deckung, wenn sie das langgezogene Hiäh! — Hiääh! — in ferner Höhe hörten. Die Lauterbrunner Bergbauern waren von jeher nie gut auf die frechen Räuber zu sprechen, denn ein schauerliches Ereignis klang in ihnen nach und warf seine Schatten von Geschlecht zu Geschlecht, wohl durch Jahrhunderte in unsere Tage.
Ein Mürrenbauer, aus welcher Sippe weiss heute niemand mehr, war an einem heissen Sommertag mit seinem Weib an der Ägerti draussen am Heuen. Während der Arbeit legten sie ihr zweijähriges Kind, das ein rystiges, (Hanf) rotes Rockli trug, hinter das Scheuerlein in den Schatten. Auf einmal stiess ein Gyr nieder, griff das kleine Geschöpf blitzschnell und segelte mit ihm über die Mürrenfluh hinaus. Die beiden Bergleute sahen den gefiederten Räuber erst, als er, mit ihrem Kindli in den Krallen, bereits über den Taltiefen schwebte. Auf einem Pfad mitten in der vielhundert Ellen hohen Stellifluh, unter der auffallend rotgefärbten Wand, legte er das unschuldige Wesen nieder. Für jedes Menschen Fuss unzugänglich war das Fluhband; die armen Bauersleute an der Ägerten und mit ihnen all die Mürrner waren machtlos, es konnte selbst der liebe Gott im Himmel den Eltern nicht helfen. Auf dem Pfad speiste der Adler seine Beute auf.
Noch lange Jahre nachher sah man, wenn der Schnee nicht lag und die abendliche Sonne in die Flühe schien, auf dem grasigen Satz als letzten Überrest das rote Rockli leuchten. Seit diesem unglückseligen Geschehnis heisst die Stufe mitten in der lotrechten Wand des Schwarzmönchs das Spyspfad.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.