Die Lauterbrunner blieben lange vom gähen Tod verschont, der seit Monaten drüben in ganz Grindelwald Leid in Haus und Heim brachte. Die Leute an der weissen Lütschine führten damals kein gottgefälliges Leben, machten sich in ihrem Übermut über das Sterben lustig und dachten nicht daran, dass das gleiche Unheil auch sie treffen könnte. Die Bergbauern hatten sich ein gröbliches Fluchen angewöhnt und meinten:
Fluochen un bätten
Muos en andren dirhijätten
Da stiess eines Tages, es war im 1442igsten Jahr, rauchiges Gewölk über die Scheidegg, kroch über die Biglen- und Mettlenalp und blieb im Schiltwald in den Tanngrotzen hängen.
Hier begann bald darauf der grosse Sterbet. Das erste Opfer war ein Gritli Gertsch, eine Hochzeiterin. Aber die grobjänischen Flucher liessen sich nicht erweichen, bis sie alle Feuer am Stecken hatten. Dem Totengräber im Talgrund pflegten sie zu melden: "Bei uns oben hat der schwarze Tod wieder einen gestreckt; es ist doch gut, dass du und der Schreiner nicht brotlos werden."
Schliesslich aber gab es der Leichen so viele, dass ständig jemand die Wengenkehre hinunter nach dem Friedhof hätte unterwegs sein müssen, um die Gräber zu bestellen. Nur noch bis zum Schnierahorn unter dem Zwirgi ging fortan der Bote und rief von dort aus die Zahl der Toten hinunter, die am folgenden Tag in den Härd einzulegen seien.
Da verstummten in Wengen oben Flucher und Lästermäuler.
Von hier griff die Seuche nach Lauterbrunnen in den Talgrund. Sie wütete so furchtbar, dass im vordem Dorfteil, "in der Zuben", zwölf Wiegenkinder zur Pflege in das gleiche Haus getragen werden mussten. Die Eltern der armen Kindlein waren alle weggestorben.
Als der Tod durch das Tal schritt, bauten die Zimmerleute in Gimmelwald ein Haus. Bevor sie die First auftragen konnten, hatte er sie erreicht, und es starben alle, die daran bauten. Das Haus blieb ein Jahr lang in Wind und Wetter ohne First und Dach.
Einmal betraten die Leichenschauer einen Weiler im Tal. Alle Häuslein waren leer bis auf eines. In der Stube auf dem Ofen sass die letzte Überlebende, ein altes Mütterlein. "Wenn es dabei bleibt und nicht mehr weiter greift, will ich schon zufrieden sein", rief es ihnen zu.
Die Toten hatten auf dem Friedhof nicht mehr Platz und wurden schliesslich dem Kilchstutzweg entlang zur Ruhe gebettet.
Zuletzt stieg die Pestilenz selbst hinauf nach Mürren. Da wurde neben vielen andern auch ein junger Bursche von ihr befallen. Wie eine schwarze Beule sich an einem seiner Finger zeigte, nahm er das Beil, schlug ihn kurzerhand auf dem Scheittotz ab und steckte ihn in einen Windspalt der Fleckenwand. Dann war ihm wieder wohl wie dem Vogel im Hanf, und er meinte, dass eben weder Zeit noch Stunde für ihn da gewesen seien. Hernach ging er während sieben Jahren fremdes Brot essen.
Sobald er wieder nach Mürren kam, da zog er — wer hätte es nicht auch getan? — den eingetrockneten Finger aus dem Spalt. Aber jetzt waren Zeit und Stunde da; der schwarze Tod übersprang selbst den grossen Zeitenraum. Rasch bedeckten die wüsten Beulen seinen Leib, und bald trugen sie auch ihn hinunter auf den Gottesacker.
Achthundert Seelen hat der grosse Sterbet in der Talschaft dahingerafft.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.