Der Geisshirt von Wengen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Über den Pfarrer, den Schulmeister und den Geisshirten ist im Bergdorf jeder Richter. Am aller- schlimmsten dran ist aber doch der Hirt. An ihm wischt selbst der letzte faule Paschi den Mund ab; ihm macht auch von früh bis spät das Geissentrüecht, das stets auf dem Passauf ist, dem Stehlen nachzugehen, das Leben sauer.

Man sagt, dass in den Bergen ein Sonnentag ein halbes Dutzend leide aufwiege. Der Geisshirt von Wengen aber konnte diese wie jene nie an Scherm oder Schatten abhöckeln. Wenn er in Wind und Wetter in den stotzigen Rasenbändern unter dem Lauberhorn, Tschuggen und Männlichen bohrende Wehtat in die Fussknöchel gelaufen hatte, liess er sich am Abend unten im Dorfe nicht mehr gerne Hagstecken auf dem Kopfe spitzen.

Vor Zeiten machten einem Geisshirten einmal eine Ziege und ein altes Reibeisen die Hölle heiss. Die Alte besass eine Geiss, die war ein Kratten, leider (unansehnlicher) als die Sünd auf der lätzen (innern) Seite. Am Abend, kurz vor dem Abtrieb der Herde ins Dorf, liebte sie es, sich abseits in eine Balm zu stellen und dort zu nächtigen. Wenn die schlaue Schlampergeiss zur Melkzeit nicht unten war, entband die Alte in Wengen den Teufel, schob alle Schuld dem Hirten in die Schuhe und wollte ihn in die Stangen stellen. Sie verlästerte ihn im ganzen Dorfe und warf ihm vor, er behalte die Ghorenochte (gehörnte Ziege) oben, um sich am folgenden Tag mit der vielen Milch einen Älperkaffee zu brauen.

Und der arme Geisser, dem trotz des harten Lebens oft der Schalk im Nacken sass, der streute in Wengen aus; "Was weiss die alte Tächa (Bergohle) von einem Älperkaffee! Den kann im ganzen Lauterbrunnental nur eine allereinzige machen, und das ist die Nydla. Wenn man aber der Alten ihre Geiss melken wollte, dann würde es unten im Napfli nur zweimal — tschip! — tschap! — machen, dann wäre es beim Eid schon fertig, und zu einem Älplerkaffee nimmt man statt Wasser Milch und statt Milch Nydla."

An einem nebelnassen Sudeltage wollte sich die Gehörnte beim Abtrieb wieder auf die Seite stellen; da wurde der Geisshirt wütend, nahm den ersten, besten Stein und schleuderte ihn nach ihr. Er traf den alten Schlamper so wuchtig an den Kopf, dass er tot zusammenbrach. Der Geisser erschrak bis in die Seel hinein, und am nächsten Tage warf er den Kadaver

in einen wüsten, tiefen Krachen unter dem Tschuggen. Die Ziege blieb verschollen, und die arme Alte vermochte keine andere an sich zu handeln. Der Hirt wagte es nicht, dem Weiblein den Schaden zu ersetzen, weil er sonst zum letztenmal die Herde zu Berg getrieben hätte. Kein Mensch ahnte, dass er schuld am Geisstod war.

Mit schwerem Herzen fuhr er fortan hinauf an die Hänge, denn er wusste es selber haargenau, dem Unvernünftigen Leid antun, das darf ein ehrenwerter Mann ja niemals, auch wenn er das göttlichste Recht auf seiner Seite hätte.

Wenig Jahre nachher kam er in einen bösen Wind, und bald trugen ihn die Wenger die Kehre hinunter auf den Gottesacker beim Staubbachfall.

Im Jahr, das folgte, machte des Geissers Bruder, der Dachdeck mit einem Lehrbuben auf die Allmendhütte ein neues Schindeldach. Sie waren bereits fertig, die Nacht war bald auf ihnen, und sie legten nur noch die letzten Schwarsteine (Steine zum Beschweren der Schindeln). Da sah der Bub vom Barwengi herunter einen Mann mit einer Bürde niedersteigen. Je näher dieser mit seiner lampenden Tregi kam, desto klarer sah der Gehilfe, dass es der verstorbene Geisshirt von Wengen war. Jetzt stand der seltsame Träger auf Steinwurfweite von der Hütte. Nun sagte der Lehrbub zum Meister: "Hee — schaut einmal, wenn euer Bruder nicht gestorben wäre, ich glaubte steif und fest, der komme hier mit einer toten Ziege auf den Achseln!"

Jaa — wohl schier — den sah der Dachdeck auch. Und sein Gesicht war so weiss wie ein gebleichtes Leilachen, als er ihn stotternd fragte: "Um — des Herr — Gotts Willen — was machst du mit der toten Geiss"?

Wie aus einem leeren Fass heraus kam die Antwort: "Die gehört der armen Alten im Wengiboden. Zu Lebzeiten hab ich das Tier mit einem Stein erschlagen und, statt es zu ersetzen, mit Lügen gegen eine Witfrau gefochten. Ich trage das Trüecht seither Abend für Abend, so manchen Tag ein Geisshirt fährt, ins Dorf hinunter, bis einer für den Schaden aufkommt!"

Das liess sich der Dachdeck gesagt sein. Es griff ja nicht ins Guttuch, und schon am nächsten Tag hatte die arme Witfrau eine schöne Ziege umsonst.

Seither sah den toten Geisser niemand mehr vom Barwengi niedersteigen. Er hat längst seine Ruh im Grab gefunden.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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