In Boganggen, dem höchsten und rauhesten Stafel der Sefinenalp, hatte man früher keine Stallungen, weder für das Rindvieh, noch für die Fohlen, die ehemals auch hier gesommert wurden. Zur Melkzeit und bei heftigen Wetterumschlägen wurden die Herden in Värriche getrieben, was sich besonders die Pferde nicht gerne gefallen liessen; denn sonst wäre kaum das Sprüchlein von Mund zu Mund gegangen:
In Sefinen hinder em Horen,
Wan die Resseli seilen gähn,
Da heig si der Hirt verschworen,
Aer meg si da nymeh b'han!
Es verwundert sich kein Mensch, dass hier oben, wo Kälte und Unwetter daheim sind, selbst zu Mittsommer die Schneeflocken zu den grauen Wolken heraustanzen können wie zur tiefsten Winterszeit.
Einmal, es war mitten in den Hundstagen, peitschte ein jäher Hagelschmeiss die Alp, und in der Nacht fiel der Schnee wie eine Staublawine. Am Morgen lag er anderthalb Ellstab hoch; das Kaltwetter hielt den ganzen Tag über an, das Viehgewerb stampfte und brüllte vor Hunger und Kälte, dass es oben in den Wänden widerhallte. Alle Älpler, vom Sennen bis zum Hüterbuben, was Stecken und Stab brauchen konnte, musste wehren, dass das Vieh nicht hagbrüchig wurde und über die verschneiten Felsen ins Verderben glitt. Nach einer schrecklichen Nacht wollte die Wetterstrenge noch immer nicht weichen, und alles glaubte das ganze Senntum verloren.
Am frühen Morgen aber — o Wunder — da sass ein Zwerglein auf der obersten Legilatte! Sein Haar schimmerte weiss wie Birkenrinde, in der Rechten hielt es eine neue Kuhseili, in der Linken Salz. Es fing an zu locken und zu hojen: "Choom — ssä — ssä — ssä — choom — Plösch choom!" Der Leitkuh band es den Strick um den Hals — und — jaa — dann was? — Huiii — das ging auf und davon wie der Föhn mit der buchenen Streue — in die Luft und die ganze Herde hinten nach! In einem wilden, brausenden Flug rauschte es hinaus in eine fette Emdgraswiese neben dem Mürrenbach, hart vor dem Dorfe.
Am folgenden Tag, als es endlich mit der Sonne nicht mehr sparte, und der unzeitige Schnee im Handumdrehen zerrann, gingen die erschreckten Sefinenälpler auf die Suche. Sie fanden die ganze Herde vollzählig und wohlbehalten, wiederkauend draussen neben dem Mürrenbach. Der Zwerg, der Gute, war verschwunden.
Auf der Wiese hielten die Sefiner lange Rat, auf welchem Wege wohl die verängstigten Tiere am besten und ohne Missgeschick wieder in das ungastliche Boganggenläger zu zügeln seien, ob über Schilt und die Wasenegg oder unten durch über Fürten. Das saftgrüne Wiesland am hintern Dorfend von Mürren heisst seither "der Rad".
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.