Am Giebelsteinhorn oberhalb Wengen, wo vor einer langen Reihe von Jahren ein gewaltiger Bergsturz zu Tale fuhr, da hütete einst ein Geisshirt seine Herde. Es war totenstill oben in der Einsamkeit. Auch der Bergwind war eingeschlafen, kein Laubblatt wippte, und kein Grashalm schwankte. Das dünne Bimmeln der vielen Geissenglöcklein war in vollem Einklang mit der satten Ruhe über Hang und Grat und starrer Felswirrnis.
Das zahlreiche Geissenvolk weidete ruhiger denn je. Der Hirt hatte heute wenig dem unsteten Trüecht (Ziegenvolk) nachstiefeln müssen und kochte, mit sich selbst und aller Welt zufrieden, unter seiner Feuerbalm in der Dreibeinpfanne den Kaffee.
Da zerriss grausam jäh ein geller Aufschrei die Bergesstille. Jeder Block und jede Felsenkante in weitem Umkreis gaben den grässlichen Schrei zwiefach zurück. Als ob der Teufel auf ihrem dürren Rücken reite, spritzten die Ziegen in jähem Schreck meckernd in allen Himmelsrichtungen auseinander, rannten über Stock und Stein in weite Fernen, und der arme Geisser musste einen lieben, langen Tag in alle Falten der ganzen Männlichenkette klettern, hojen und hopen, bis er sie wieder alle beisammen hatte.
Nicht um alles in der Welt hätte der Geisshirt von Wengen sagen können, wer den seltsamen Schrei ausgestossen. Oben in der freien, wilden Weite war keine Menschenseele zu erblicken, und er sah ja, viel weiter als der Büchsenschuss reicht, haarscharf.
Ob wohl eine arme Seel unter den Bergsturzblöcken ihrem jahrhundertlang verhaltenen Weh in einem einzigen Aufschrei Luft gemacht?
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.