Auf Wengernalp lebte einst eine Familie von Riesen. Sie bestand aus dem Vater, zwei Söhnen und einer Tochter. Als der Vater noch jung und die Kinder noch klein, da waren sie verträgliche Leute und lebten mit ihren Mitmenschen auf gutem Fuss. Je älter der Vater wurde, desto wunderlicher und ungesitteter benahm er sich, wollte mit niemand mehr Gutfreund sein und hatte stets Lust, auf alle Leute herunter zu hacken. Die Kinder waren in des Vaters Geschlecht, wurden igelstachlig und nahmen bald auch böse Launen an. Wer über die Wengernalp kam, wurde von den Riesen geplagt — oh, Herr Jesses — Bösewichte waren das bald und schreckten selbst vor ärgster Missetat kaum zurück!
Einst kam ein armes, altes Manndli in schäbigen Grisshosen (zweifärbige Sommerkleidung aus Hanf) über die Scheidegg und bat bei den reichen Riesen auf Wengernalp um einen Trunk Milch. Sie fuhren es aber hart an, sie hätten hier oben keine Milch zu viel, ein solcher Schlufi solle Wasser saufen, wenn der Durst ihn quäle. Als sie sahen, dass das Manndli kein Chlupfhans war und hörten, dass er ihnen zurief, er wollte lieber unter einem Schopf (grosser Stein) neben einem Wespennest sein, als neben ihnen zu leben, da wollten sie ihm an den Kragen. Aber das alte Manndli, das ein Berggeist gewesen und stärker war als alle Riesen der Welt, verschwand wie weggeblasen. Es tat zuvor noch einen fürchterlichen Schwur, und mit einermalen, da begannen die bösen Riesen zu wachsen — hoch, hoch — und wurden zu Fels und Eis, der Vater zum Eiger, die Söhne zum weissen und schwarzen Mönch und die Tochter zur Jungfrau.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.