Zwei Brüder sollen vor längst vergangenen Zeiten vom Wallis her mit ihren Frauen über das hohe Grenzgebirge, an den weissen Schneehäuptern vorbei, ins Lauterbrunnental herübergestiegen sein. Als sie nach langer und mühsamer Wanderung von der Wildi in die Zähmi hinunterkamen, staunten sie ob dem schönen, menschenleeren Tal, dem saftigen Kraut der Weiden und dem bunten Flor der Alpenblumen. An den steilen Hängen kletterte schwarz und wuchtig der Hochwald empor. Riesige Schermtannen, deren gebogene, flechtenbehangene Äste bis auf den Boden reichten, rauschten im Wind und neigten ihre alten Wipfel. Auf einer Seite war die Fluh wie eine himmelhohe Mur und auf der andern war ein grüner "Wang" (Abhang) Unten aber, da brausten die wilden Wasser im engen Tal in wirrem Lauf gen Mitternacht. Über die beidseitigen Flühe nieder stäubten wie Brunnen die Bäche in den Grund und suchten hier regellos ihren Weg.
Einmütig beschlossen die beiden Walser: "Wir gehen nicht hinunter in die Tiefen, wir wollen uns oben auf beiden freien Höhen niederlassen." Sie trennten sich. Der eine stieg rechts hinauf und siedelte sich auf dem Wang an, der grossen, saftgrünen Geländestufe am Fusse des Jungfrauberges. Der andere stieg auf der linken Seite der weissen Lütschine noch höher empor auf die luftige Krone der Mur und baute hier Haus und Herd.
Dort oben waren sie sicher vor Lauigfahr und Wassernot; Holz und Weide gab’s die Fülle. Sie lebten auf den einsamen, sonnigen Höhen glücklich und zufrieden. Aus den kleinen Bergsiedelungen auf der Mur und auf dem Wang wurden später die stattlichen Dörfer Mürren und Wengen.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.