Der Schneehase auf dem Kriegsmahd

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

An der linken Seite der grossen, blauen Zunge des Rottalgletschers oben beginnt das Kriegsmahd, eine lange, gleichmässig abschüssige Grashalde, die hinunter reicht bis an das Ufer der Tschingellütschine. Beim ersten leichten Schneefall sieht man von Mürren aus noch heute deutlich, wie ein Zickzackweg in den Hang gekritzt ist. Ein paar hundert Fuss unterhalb des Dürlocherhorns geht er in den Guferhalden verloren.

Wenn man nur wüsste, wo das unter Geröll vergrabene Ende des Schlittweges ist, denn hier befindet sich eine mächtige, eiserne Truhe voll geschlagenes Gold vergraben, rundes und dreieckiges. Ein glattfelliger, blütenreiner Schneehase verwahrt den Schlüssel dazu. Rieselt zur Vollmondzeit das Licht über die Grashänge, und kommen zur rechten Stunde gläubige Jungburschen des Tales den schlimm verwachsenen Weg herauf, so wartet ihrer dort, wo er sich in den Steinen verliert, der Schneehase. Den Schlüssel zur Truhe wird er im Maule tragen und wird ihnen voranhoppeln bis zu dem Ort am Ende des alten Weges, wo der Schatz seit Jahrhunderten vergraben liegt. Steigen sie das ganze Kriegsmahd hinauf, ohne eine Silbe miteinander zu worten, dann wird der weisse Hase ihnen den kostbaren Schlüssel überreichen, und Truhe und Gold sind in ihrer Hand.

Vor vielen Jahren fühlten sich drei zur Hebung des Schatzes berufen. Wortlos stiegen sie über Stock und Stein den seit langen Zeiten nie mehr besorgten Weg mühsam hinauf. Wo die Grasnarbe aufhörte, und das Geröll anfing, sass richtig unter einer der letzten Bergrosenstauden der Schneehase und trug im Maul den blitzblanken, silbernen Schlüssel. Jetzt — hopste er mitten vor sie — sprang langsam gradaus über die Steinhalde und bog unvermittelt in einem spitzen Kehr nach links. Der Hinterste sah es wohl klar. Die andern aber schienen nichts zu merken und trotteten geraden Weges weiter. Nun sprang der letzte nach vorn, hielt die andern an und deutete auf den Hasen, der zu linker Hand, schon beträchtlich höher, über das Gufer (Geröll) wackelte. Die beiden standen da, wie aus Teig gebacken, taten keinen Wank, sahen nichts und machten Miene, in der eingeschlagenen, falschen Richtung weiter zu trappen.

In Ärger und Aufregung vergass der Dritte das eherne Gebot der Schweigsamkeit und rief: "Ihr einfalten Trottel! — seht ihr denn nicht da oben auf der Egg im Hohlicht den Schneehasen springen? Den silbernen Schlüssel, den trägt er ja im Maul!" Bald standen alle keuchenden Atems oben auf der zügigen Egg. Da sahen sie den Weissen gegen die Gletscherzunge zu verschwinden. Stunde um Stunde suchten sie das ganze Kriegsmahd ab, lockten und pfiffen; der schöne Schneehase mit dem Schlüssel liess sich aber nie und nimmer mehr sehen.

 

Viele Jahre nachher lebte ein Mann, der wieder den Versuch wagen wollte, das Geld zu holen. Er machte sich mutterseelenallein auf den Weg, damit er ja nicht in Versuchung komme, mit irgend jemandem ein Wort zu verlieren. Oben im Kriegsmahd erschien ihm richtig der Schneehase mit dem Schlüssel und führte ihn ohne Zaudern zur Stelle, wo die Schätze vergraben waren. Nach kurzer Arbeit hob er drei Truhen, alle randvoll, die eine mit Gold, die andre mit Silber und die dritte mit kleinem Geld. Sein Herz pochte laut vor Freude, und er setzte sich neben den Schatz, den er als sein Eigentum ansah. Da trat plötzlich aus einer Felsenspalte ein langer, hagerer Geist mit schwarzem Bart, der Hüter des Geldes. Er sprach: "Das Geld soll dein sein, aber du musst mir hier auf diesem nackten, glatten Fels mit deinem Blut und Namen den Empfang bekennen." Als der Hagere ein spitzes Messer aus dem Gürtel zog, um ihm das Blut zum Schreiben abzuzapfen, da fasste den Mann ein Grauen, und er zog des Hasen Schuhe an.

Der Schwarzbärtige lachte dröhnend und rief ihm nach:

Die dri erschten, diö hein miessen prichten,

Vor sim Bluod, d’r viert, dar tuod mu firchten.

Jetz Stächelbärger, jetz heid ier ach still!

Mu chan ach d’Sach machen, su liecht mu wil,

Läd ier eis die von Mirren lan aha chon,

Die reichen das Gält hie wuoha den schon!

Später hiess es dann, dass kein Irdischer den Schatz heben könne bis im Tal einmal bittere Not herrsche. Dann solle es ein unschuldiger, armer Knabe finden, welcher da hoch oben die Ziegen hüte.

Wann das aber geschehen wird, das weiss niemand.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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