Der gewalttätige Spätener

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf der mitternächtlichen Seite der Männlichenkette liegt die stotzige, streitbare Spätenenalp. Spärlich giesst die Frühlingssonne ihren belebenden Schein über die fahlen Hänge; gewöhnlich schmelzen die letzten Reste Lauischnee im Brachmonat. Sie heisst nicht umsonst die Spätenen; erst in vorsommerlicher Wärme schiesst die Atzung an den Schattenhalden in Kraut und Halm. Somit kann die Alp spät bestossen werden, und die Zahl ihrer Viehsömmerungstage ist um ein Erkleckliches geringer als die der meisten andern. Im Herbst aber stach es kurzsichtige Bauern von jeher empfindlich in die Nase, wenn das Molken nicht so ansehnlich war wie das der hilben Bergschaften.

An der Spätenen Käser zu sein, das war denk etwa kein Schleck, und gewöhnlich konnte nur einer gedinget werden, der bei andern Bäuerten nicht wohl an war.

Ein grosser, groblochter, gewalttätiger Mann, der Spätener-Peetsch benamset, betreute einst die Alp. Bosheit war ihm in Fleisch und Blut, und mit Mensch und Tier vertrug er sich gewöhnlich wie das Feuer mit dem Wasser.

Als er in einem Frühjahr von der Lochbrücke im Talgrund über Ausserwengen zu Alp fuhr, liess er hier die ganze Herde rücksichtslos nach ihrem Willen über Weidland und durch die frischbesorgten Gemüseplätze bysen (rennen). Mitten im schönbestellten Kartoffelacker von einem abgehärmten Froueli stiessen sich zwei Kühe mit den Hörnern, ohne dass der Spätener im geringsten Miene machte, es ihnen zu verwehren. Die schon frischgrün ans Taglicht gekeimten Erdäpfel wurden wüst zertreten oder flogen in hohem Bogen aus der frühlingswarmen Scholle. Das Weiblein riss das Fensterflügeli auf und warf ihm an den Kopf: "So etwas tät ein rechter Mann nicht dulden, und wenn man ihm mit einer Schaufel Lohn in die Stube schoren würde! Es ist schade, dass die Sonne auf dich scheint, du ehrloser Lump!" Der Grobjänische hatte Gelegenheit, zwei Männer drum zu vermahnen, er nehme sie als Zeugen, und vor dem Landvogt im Schloss draussen zu Interlaken war der Hafer bald gedroschen. Die Haushaltung in Ausserwengen kam um ihre Kuh, musste den Erlös dem Spätener bringen, obschon der genug hatte und vom Haufen nehmen konnte.

Im Käserboden pflegte der Peetsch auf der Bergfahrt mit seiner Herde zu nächtigen. Das Treichirecht hatte er auf einer Weide nebenan, die einer Witfrau gehörte. Diese hatte, um eine Anzahl Tüüchel (hölzerne Wasserleitungsrohre) und Wasserkänel zu ersparen, den Brunnentrog ein weniges verlegt. Das ging dem Rechthaber wider den Strich, und er zwang die arme Witfrau, den Trog an den frühem Ort zu versetzen, denn sein Gewerb lasse nicht gern von der Gewohnheit, justament hier Wasser zu saufen.

Alle Ermahnungen der Bauern, mit dem Vieh ein Liebreicher zu sein, liess er zum einen Ohr ein, zum andern aus. Hatte eine Kuh während des Melkens Wehtat im Euter und warf den Schwanz an die Flanken, so schlug er sie mit dem Melkstuhlbein, dass noch nach Tagen daumendicke Striemen zu sehen waren. Gar oft prüfte er die Wärme der Schotte für die Schweine nicht, wie es üblich ist, zuerst mit der Hand, sondern schüttete sie mit Absicht viel zu heiss in den Futtertrog. Wenn die Tiere in ihrer Fressgier mit der Wulstschnauze gierig hineinfuhren, quietschten sie laut auf, und dem argen Mann bereitete das ein teuflisches Vergnügen.

Wo sich Gelegenheit bot, vergriff sich der Ungast an den Tieren. Die herzerquickende Munterkeit und Zutraulichkeit des Alpviehs vermisste man an Spätenen. Scheu und vergrämt mied es den Menschen, Furcht und Unruh waren täglich zu Gast. Der Segen der Arbeit im kleinen Senntum blieb aus, und der Sommernutzen ging zurück.

Und doch war in der russigen Seele des Späteners ein aperer Fleck. Ein Märzengitzi, so weiss wie frisch gefallener Schnee, hatte es ihm eines Sommers angetan. Das stets emsige Schwanzwedeln, das glöckleinhelle Meckern und die eckiglaunigen Heuschrecksprünge boten eine willkommene Abwechslung in den gleichmässig tröpfelnden Arbeitstagen des Älplerlebens.

In diesem ungastlichen Sommer spannte der Senn den Käse Morgen für Morgen erst spat unter Gewicht, denn seit langem ging die Dachzube in einem fort; vor dem Gehalt (Sennhütte) sank man bis zum Knie in den Morast, und die Arbeit ging dem Älpler nicht aus den Händen. Der Nebel wallte und wob atembeklemmende, tropfnasse Schleier um die Hütte. Die Kühe hatten jeden Hubel getrejet (tiefe, regemässige Stapfen treten) und schleiften Bauch und Euter über das in Hüttennähe von der Grasnarbe entblösste Erdreich. Bei diesem langanhaltenden Sudelwetter entstand das sonderbare Nebeneinander von unsäglichem Schmutz und altherkömmlicher, peinlicher Sauberkeit. Es verursachte vermehrte saure Mühe, diese bei der Zubereitung der köstlichen Erzeugnisse walten zu lassen.

Peetsch war gereizter denn je. Als er eines Morgens den Käse bereits im Järb (hölzerne Käseform) hatte und eben am Ziegern war, hopste das patschnasse Zicklein über die hohe Schwelle dem Käser ständig vor die Füsse. Ein grässliches Lasterwort fuhr ihm über die Lippen, und mit einem seiner Holzböden schleuderte er es wieder hinaus. Er hatte den schönen Ballen aus dem Kessi heraus, dieses aber am Turner (Kessihebel) nicht wieder über das Feuer gedreht und wollte eben den Zieger in das Model pressen; da sprang das einfalte Jungtier noch einmal herein, ihm zwischen die Beine. Der Senn geriet in Unvortel, und mit einem nassen Platsch fiel der schöne, weisse Ballen in Glut und Asche der Kessigrube.

Jetzt loderten die Flammen des gähen Zornes über dem Spätener zusammen. Der von allen guten Geistern verlassene, rässe Feuerbubel packte das fröhlich wieder über die Schwelle hopsende Märzengitzi und warf es — o Jammer! — mit einem Fluch in die siedende Schotte.

Den Bauern machte er dann weis, der Gyr habe es verzügelt. Das war des gewalttätigen Späteners letzter Alpsommer. Obwohl er ein rüstiger Mann war und noch viele Jahre lebte, wies er es von der Hand, noch fürderhin zu alpen und wurde immer düsterer und in sich gekehrter.

Nachdem er dann unter schweren Leiden heimging, da war es an der Spätenen Sommer für Sommer ungeheurig. Die Älpler sahen den Fluchbeladenen jede Nacht von der Hütte kommen, das nasse, tote Gitzi in den Armen. Man sagte bald, wenn es den Schnee zu Unzeiten über alle Hörner herunter jagte: "Es schonet bald wieder, der Gewalttätige hat gehojet auf dem Nestfuetergrind." Oder es hiess: "Mähet nicht zu viel, der Spätener hopet auf dem Rosswang unten!" Und auf diese Wetterzeichen konnte man zählen — ja gewiss.

Einmal, es war noch vor dem Mittsommer-Messtag, stieg der Käser hinunter nach Wengen und warf den verdutzten Bauern den Bündel dar, weil der böse Peetsch mehrmals während der Schlafenszeit gerumoret hatte, dass es nicht mehr zum Aushalten war. Wohl oder übel mussten noch am gleichen Tage zwei Herzhafte hinaus nach der Spätenen, das Vieh zu besorgen. Wie sie zur Hütte kamen, der Halbmond warf seinen fahlen Schein über die Halden, sahen sie den Wesenlosen den Stecknagel aus dem Türpfosten reissen und in die Hütte treten. Als sie näher gingen, hörten sie, wie er Feuer machte und den knarrenden Turner drehte. Da die beiden keine Furchthanse waren, traten sie nach geraumer Zeit guten Mutes über die Schwelle. Der Unselige war schon am Ziegern und hantierte im Halbdunkel, als ob es heiterheller Tag, und er mutterseelenallein wäre.

Nun begingen die beiden die Unvorsichtigkeit und stellten ihn zur Rede. Im Hui war der Spätener wie der Höllteufel um die Kessigrube herum und packte jeden mit eiserner Faust am Rockkragen. Da half den sehnigen Bergbauern kein Kräften und kein Sperrzen, zu Boden mussten sie. Es war ihnen, als ob der Gletscherluft sie anblase. Der Unheimliche schleifte sie zur hohen auf loser Trockenmauer liegenden Hüttenschwelle über die vor Sommern so fröhlich das weisse Zicklein gehüpft und wollte beide mit Gewalt darunter hindurchzerren. Sie fühlten bereits ihre Seelen fliehen, da rief einer in Herzensangst die Nachtgeisterbannung:

Jetz legen miir ys nieder in Jesu rosenfarben Bluot, Das ist fir alli, alli beesen Geister guot! Amen!

Mit dem Amen zerfiel der Ruhelose zu nichts, und er ging — der Himmel sei gelobt — an Spätenen nie mehr um.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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