Auf der Hunnenfluh, die wie des Herrgotts Bollwerk die rechte Talseite nach aussen abschliesst, hört man im Frühling und im Herbst, wenn es ander Wetter machen will, und die ersten heissen Föhnstösse die Tannenwipfel auf dem Fluhrand wie Weidenruten biegen, in Ausserwengen ein Klagen und Schluchzen. Das ist das Gryni.
In einem Jahrhundert, das längst verronnen, wohnte an der Spendägerten in Wengen ein Mann mit seiner Frau. Ihr einfaches Leben floss in Eintracht und Arbeit dahin. Als, nach Jahren erst, sie auf Jugend hoffen durften, war die Vorfreude gross. Eines Tages stand ein Kind auch wirklich an, aber mit ihm brach Ungemach über die Leute herein. Das Kleine hatte mitten im Gesicht ein rostrotes Muttermal, grösser als die Fläche einer Hand.
Das Unglück werkte die junge Frau lange Zeit ins Bett, es brach ihr den Schlaf, und sie hintersinnete sich schier. Sie schämte sich des Kindes, trug es nicht über den Tauf und tat keinen Schritt mehr unter die Leute. Ganz langsam — helf ihr Gott im Himmel oben — reifte in ihr der Gedanke an ungute Tat.
Eines Sonntagmorgens, als drunten im Grund die beiden Glocken gar feierlich die Talleute zur Predigt riefen, war ihr Mann schon längst auf dem Kilchweg. Sie jetzt auf und davon, mit dem armen Kind in der Schürze, unterhalb des Dorfes über Rohrflüh und Brunni hinaus nach der Hunnenfluh. Hier leerte sie es in die schauerliche Tiefe, und unten nahmen es die weitästigen Buchenkronen des grossen Schmelziwaldes auf.
Als der Mann vom Tal heraufkam und nach dem Kind fragte, da focht sie mit Lügen, es sei ihr abhanden gekommen. So lange man auch suchte, auf Fluhsätzen, in Gräben und Wäldern, das Kindlein blieb verschollen. Es kam niemand in den Sinn, im Talgrund und am Talend draussen zu suchen.
Angst und Kümmernis aber brachen der Frau Herz, und eines Abends, der liebe Gott sei ihrer Seele gnädig, hing sie im Ägertenhaus am Strick.
Damit es dort nicht ungeheurig werde, und die Arme an ihre Ruhe komme, nahm man, altem Brauch gemäss, die Leiche nicht über die Türschwelle, sondern oben zum Schindeldach hinaus. Dann vergrub man sie, unweit vom Haus, im Spendägertenloch.
Alle kluge Vorsehung aber war umsonst, das Gryni kam aus dem Loch herauf und strich zu gewissen Zeiten an den Ort der bösen Tat. Auf dem Rossibort streifte es stets eine Hausecke. Es war in der Nähe zu hören wie ein in Angst dahineilender, atemloser Mensch. Wenn es aber weiter talaus kam, hauelte es laut auf.
Noch heute hört man dann und wann am Rand der Hunnenfluh, wenn im Sturm die Wipfel ächzen, das Spendägertengryni dem toten Kinde nach in den Abgrund hinunterweinen.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.