Das Rottal, der weite, wilde Gletscherkessel hinter dem Jungfrauberg, war vorzeiten eine schöne, saftige Alp. Hier lag ein junger Mann, Rottalhans, dem Viehgewerb ob. Eine Stunde weiter unten, auf Stufenstein, das damals nicht ein so mageres, kratziges Alpetli war wie heute, war Toni Senn. Sie waren jung, mächtig gross und stark wie die Bären. Als Rottalhans einmal zu Stufensteintoni hinunterstieg zum Abendsitz, da ging der ins Milchgaden und bot ihm eine zwanzigmässige Gebse voll Milch als Labetrunk. (1 Mass = 1,5 Liter) Mit einer Hand bot er ihm die mächtige Gebse, die war so voll, dass die Biene hätte draus trinken können, und auf den Boden floss nicht was Tau am Halm. Ob dieser stummen Kraftprobe staunte Rottalhans, nahm aber die Gebse auch mit einer Hand, holte den Atem tief unten, setzte an und liess die zwanzig Mass rinnen.
Von dieser Stunde an drückten Neid und Eifersucht die beiden noch schlimmer als bisher, denn unten im Ammertengrund, da war eine Jungfer, man sagte von allem Wunder, was das für eine sei, zwei Augen wie der Himmel über dem Firn, zwei Wangen wie Bergrosenblust, und Hans wie Toni wähnten sich Hahn im Kratten.
Einmal, als Toni sich anschickte, in den Grund hinunter zu gehen, sah ihm Rottalhans oben scheelen Auges zu. Er schaute über den Fluhsatz vor der Hütte hinunter und brummelte bärbeissig: "Was will er so zu Unzeiten schon wieder drunten? Ich weiss, wo ihn der Schuh drückt, den tonners Gassenschlingel!" Da kam Tonis Hüterbub herauf ins Rottal: "Hoi-hoo — Hans, wie geht es hier oben? Toni war schon die Woche, die verwichen, eine Teufelslänge unten im Ammertengrund, und eben ging er wieder. Da habe ich gedacht, ich komm zur Kurzweil herauf zu dir z’Dorf." Da liess Rottalhans alle Lasterwörter fallen, die ihm auf die Zunge sprangen, bekam einen Kopf, so rot wie eine glühende Kuhtreichel und sprang, ohne mit dem verdutzten Buben das Geringste zu worten, in solch grässlichen Sprüngen bergab, dass er Tritt für Tritt in den harten Felsen einsprang, und das Alpetli von da an der Stufenstein hiess. Sobald er Toni eingeholt hatte, packte er ihn an, und es begann ein Kampf auf Tod und Leben. Nach langem Ringen erst musste Toni von Griffen lassen und sank, wie ins Herz getroffen, zusammen.
Von Gewissensbissen gefoltert, kehrte Hans nach dem Rottal zurück, und seinem Leben war auch bald ein Ziel gesetzt. Ob er freiwillig in den Tod ging, oder ob er vor Überanstrengung starb, konnte nie ermittelt werden.
Mit gewaltiger Schnelligkeit wuchs nun der Gletscher an der Jungfrau, und bald bedeckte der mächtige Eisstrom die ehemals prächtige Alp Rottal. Wie das Stöhnen eines geängstigten Geistes liess es sich jahrhundertelang und bis zur heutigen Stund aus den tausend und abertausend kleinen und grossen Gletscherschründen hören. Wenn heute der Rottalföhn tosend und keuchend in den Grund niederstürzt, so sagen die Leute: "Hörst du, wie Stufensteintoni und Rottalhans sich schlagen oben in den Flühen?"
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.