In Wengen war seinerzeit ein grosses, schönes Stück Land. Im Vorfrühling, wenn auf allen Wiesenhängen weit und breit noch das bedrückende Fahlgelb lag, spross hier schon freudig das erste Grün, und dieses schoss bald in das saftigste Kraut, des Bauers Augenweide. Mitten hindurch floss in lustigem Lauf ein silberhelles Bächlein. Es führte das allerbeste Trinkwasser der Gegend, und selbst in der grössten Winterhärte sah man an seinem Rande nie Eis. Im heissesten Sommer, wenn man fürchtete, die unbarmherzige Sonne scheine Dürre und Hunger ins Land, spendete es in stets gleicher Fülle seine kühle Gabe. Das Riebibächli trieb eine Sagemühle und rieb den Menschen Roggen und Gerste. Zwei Bauern stiessen mit ihrem fetten Grund und Boden daran und lebten in Streit und Hader. Jeder war des Sinnes, das Bächlein gehöre ihm, und da sie beide gähes Pulver hatten, entbanden sie oft den Teufel und taten einander Uebles an. Nach Jahren aber wurden sie doch rätig, ein altes, hageres Chudermänndi, das dann und wann in Wengen erschien, als Richter anzusprechen. Niemand kannte es näher, aber auch niemand konnte ihm üble Rede nachwerfen, und es hiess, es wisse und verstehe mehr als andere.
Eines schönen Tages erschien es; die beiden Bauern brachten ihm ihr Anliegen vor und baten es um des Herrgotts Willen, es solle ihnen doch marchen.
Das Männdi darauf: "Ja, ihr streitsüchtigen Manna, das ist jetzt noch keine Notsach, an jedem gewöhnlichen Tag kann ich das nicht tun, ich komme dann in Ustagen wieder, zu einer ganz bestimmten Zeit."
Als der Rottaler (Rottalföhn) wieder einmal in wilden Stössen talaus fuhr, das Unterste zuoberst kehrte, Schnee und Eis in seinem heissen Atem an Fluh und Hang zergingen, da waren beide des Richters wartend. Er kam aber erst mit Kuckuck und Schwalbe und hatte nichts bei sich als ein haselnes Zwieselstecklein. Mit dem fuhr er dreimal durch das Wasser des Riebibächleins und rief mit einer hohen Stimme, die tönte wie der Ruf des Herrenvogels: "Ich für mein Teil, ich behalt mir Leib und Seel vor, aber euch, ihr Sackerhagel, ihr Kratzbürsten, euch will ich jetzt marchen, dass für alle Zeiten gemarchet ist! Ihr habt lange genug einander zuleid gelebt! Morgen, noch bevor der Tag anschlägt, wird die March gezogen sein."
Und dann auf und fort, wie ein erzürnter Bettler, kein Mensch im Tal hat das Männdi je wieder gesehen.
Das Wetter begann zur Stund stössig zu werden; grosse, pechschwarze Wasserträger stauten sich an den Hochgipfeln, und um Mitti Nacht brach ein so schweres Unwetter los, wie es in der Talschaft zu keines Menschen Lebtag je vorgekommen war. Der Regen fiel in Geisselschnüren, es stürmte und blies, und das ganze Tal fing an zu beben, zu tönen und zu rauschen in Wind und Wasser. Ein Donnerschlag krachte in den andern, der Widerhall rollte in den Flühen, fahle Blitze zuckten, und ein übersüsser Gestank von Feuchtigkeit, aufgewühltem Erdreich und Schwefel erfüllte die Luft. Die Menschen standen zitternd vor ihren Häusern und glaubten, der jüngste Tag sei angebrochen.
Als am andern Morgen die Wind- und Wasserkräfte ausgetobt hatten, und die beiden Bauern am Riebibächli Wasser holen wollten —- pootz — Teufelwetter! — da war auf alle Zeiten gemarchet. Aus dem Bächlein war ein Bach geworden und der floss in einem vieldutzend Fuss tiefen und breiten Bett. Er heisst jetzt der Chnewgraben und trennt den Weiler Schiltwald vom übrigen Wengen.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.