Oberhalb Wengen liegt die Hannegg, eine grosse Vorsassweide mit einer wohlgehaltenen Scheune. Wenn der Bauer das Heu aufgeazt hatte und mit dem Vieh in ein anderes Gehalt zog, öffnete er, wie üblich, den Fellbalkenladen ob der Stalltüre und die zwei seitlichen Luftlöcher, damit der scharfe Durchzug die Feuchtigkeit auf der Brügi, (Stallboden) an Wänden und Diele trockne.
In finsteren Gewitternächten sah man nun durch die drei Löcher öfters übernatürlich grelles Licht zünden. Als es seinen hellen Schein wieder einmal nach allen Seiten warf, gingen zwei Vetter aus dem Dorfe, die selbst den Teufel auf Stelzen nicht fürchteten, frohelli hinauf zur Hannegg-Scheune Nachschau halten. Als sie dort ankamen, war der Vogel schon ausgeflogen; wie sie auch das Unterste zuoberst kehrten, die ganze Scheune war leer wie ein Räucherkamin zur Sommerzeit.
In einer andern, tönenden Gewitternacht, da funkelte das geheimnisvolle Licht wieder. Jetzt gingen die zwei Vetter noch einmal hinauf und wähnten, dass ihnen zu der Stund, wo ein Tag den andern ablöst, die Maus wohl leicht eingehen könnte. So leise wie ein Hauch machten sie die Stalltüre auf. An einer Wand hing ein helles Licht. Es füllte den niederen Stall mit Glanz. Ein schwarzes Männlein, wesenlos wie ein Schatten im flackernden Scheine, stand mitten auf der Kalberbrügi. Es hatte drei von den schweren Brügiladen gehoben. Darunter war ein mächtiggrosses Loch, und das war bis an den Rand gefüllt mit schönen, gelben, duftenden Bergkäsen. Der Schwarze bot ihnen Tabak, entzündete ihn mit Schwamm und Feuerschlagenmesser und sagte mit einer Stimme, die klang wie aus einer anderen Welt: "Wenn man lebte, wie man sollte, wäre das Sterben eine Freude. Ich habe mich am Alpnutzen vergriffen vor längst entschwundenen Tagen, und mein Lebtag sprang mir jedes vertraulich gehörte Wort bald über die Zunge. Jetzt büsse ich hier, und es können mich nur zwei erlösen, die das gleiche Geheimnis wohl bewahren während sieben langen Jahren. Könnt ihr so lange verschweigen, was unter den Brügiladen verborgen, soll die ganze Hannegg euer sein!"
Die beiden wussten, dass solch eine Gabe nicht an allen Hagstecken hängt. Sie gingen still und verschwiegen nach Hause und hielten reinen Mund während all der Zeit.
Im achten Jahr, da ging abermals der schwarze Tod durch das Tal, und noch ehe die Sonne ihren Lauf wieder wendete, hatte die Hanneggweide schon fünfmal Hand geändert, fiel schliesslich den verschwiegenen Vettern von Wengen zu, und die Lichtlein zündeten nie mehr aus dem leeren Stall nach Wengen herunter.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.