Rechts vom Wasserlauf, auf Wengernalp, und links, auf Bletschen, alpeten zwei Männer in den besten Jahren. Beide bliesen das grosse Alphorn meisterlich, wie man es in den Bergen weit und breit nicht zu hören bekam. Zu Brachmonat-Anfang, wenn sie noch auf den untersten einander gegenüber liegenden Stafeln Grütsch und Wykibort waren und wieder im Herbstmonat, bliesen sie, sobald der abendliche Fallwind von den Gräten zur Ruhe gekommen, des Werktages Töne erstarben, und die laue Luft ringhörig war, vor ihren Hütten einander zu. Ihre grossen mit Tannenwürzelchen fein säuberlich umwickelten Alphörner waren Meisterwerke und erzeugten Töne von hellem Wohlklang, die besonders weit über Berg und Tal reichten. Die in Innigkeit und schlichter Einfachheit herzerquickenden Klänge schwebten über die Taltiefen; in den Einsamkeiten der steinernen Steilwände rollte die Sehnsucht der letzten Töne fort. Der Bletschner blies mit Vorliebe eine seit Jahrhunderten von Geschlecht zu Geschlecht weiter gegebene Melodie. Und vom Wykibort her zitterte in verhaltenem Jubel die Antwort durch die Stille.
Während eines Sommers wurde der Wengernälper von bitterem Ungemach verfolgt. Auf den Sätzen war mehr als ein Dutzend der schönsten Kühe im Eisbruch am Jungfrauberg dahergefallen. Den hangenden, starren Strom, der das Unglück gebracht, hat man seither den Kühlauigletscher benamst, und kein Vieh wurde von da an mehr hinübergetrieben.
Im Herbst, als die Bauern die Molken der beiden Alpen auf den Holzschlitten sorglich zu Tale zogen, stellte es sich heraus, dass Nutz und Ware der Wengernalp, alles leiberment, keinen Vergleich aushielten mit denen von Bletschen. Milden Käse schichteten diese auf, der war gelber als das Ei.
Jetzt hatte der Wengernälper bei seinen Bauern keinen Stein im Brett mehr. Er war, Gott sei es geklagt, gäh wie Feuer und Pulver. In Jähzorn und Eifersucht erschlug er den Bletschner und floh in die herbstlichen Berge.
Solange sie ihn auch suchten, sie konnten seiner nirgends habhaft werden. Der Unglückssenn nächtigte in den verlassenen Hütten, lief tagsüber ruhelos Beeren und Kräutern nach.
Eines Morgens, es war bereits eine herbige Kälte, hie und da tanzte schon eine wilde Flocke zum grauen Himmel heraus, tönten vom Wykibort wieder mächtig die alten Klänge des Alphorns hinüber in die Mürrenfluh. Das war so seltsam zu beginnenden Schneezeiten, dass alles erstaunt aufhorchte im Grund und auf den Höhen.
Der Hirt hatte wohl gewusst, dass die Töne ihm die Freiheit kosten würden, aber Sehnsucht und das trotzige Justament hatten ihn übermannt. Die Häscher der hohen Obrigkeit fanden den ehemals steckengeraden Bläser in der Wykiborthütte — einen verwilderten, gebrochenen Mann. Das grosse Horn lehnte an der Wand.
Als der Landvogt den Unglückssenn talaus führen liess, hörte man hinter ihm nicht eine einzige üble Rede; sein Anblick tat allen im Herzen weh, denn soweit man wusste in den Bergen, war bisher noch nie ein Senn an den Galgen gekommen.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.