Einmal hatten die Älpler auf Winteregg einen blutarmen Hüterbuben. Den lehrten sie mit Fleiss das Fürchten und erzählten ihm beim Abendsitz gruselige Geschichten von den Gespenstern, die in der Talschaft umgehen, der Nachtschniggela, dem Gryni, der Ruossggäntela, dem Pootzi, dem Hoopi, dem Pölimann und dem Haaggenmanndli. Er hörte kreidebleich zu, wagte es nicht mehr, über die Achsel zu blicken, geschweige denn vom Tische aufzustehen — aiii — es konnte denk etwa in jeder von den dunklen Hüttenecken ein solches hocken!
Einen von den Sennen, den ritt von Kindsbeinen an der Teufel. Kein Kind und kein Tier liess er in Ruhe, und von der Tagheitri bis in den Sternschein fluchte er einen Tonner in den andern. Dem machte es Lust, den armen Hüterbuben, über den niemand die Hand hielt, bei stichheisser Sonne, in Nebel und tropfnassem Gras nutzlos herum zu jagen und schurkisch zu behandeln.
Eine ganz besondere Freude aber bereitete es ihm, den Knaben zur Nacht, die ja niemandes Freund ist, zu schrecken. Er schickte ihn, nachdem das Taglicht verblichen, über den Bletschflühen der Herrgott schon die Sterne an den blauschwarzen Himmel herausgehängt hatte, zum Brunnen hinter der Hütte, Wasser holen. Sobald der Bub zur vorderen Tür hinaus, sprang er rasch durch den Galtviehstall nach hinten und setzte sich, krumm wie eine alte Huschelhexe, auf den Brunnenstockkopf. Kam der Hüterbub um die Hüttenecke, begann er flugs zu schnarchen und zu knurren.
Nur die Angst vor Prügel hielt den Knaben davon ab, über Hals und Kopf davonzurennen. Er zitterte wie Espenlaub und durfte schier den Atem nicht ziehen, wenn er den Napf unter die Zube stellte. Wie er mit dem Wasser in die Hütte trat, fragte man ihn, ob das Pootzi auf dem Stockkopf wieder geknurrt habe. Der Bub stand weder Red noch Antwort; in Mark und Bein erschüttert hastete er die Leiter hinauf auf die Gasterra (Heulager) und liess sich ins Bergheu fallen.
Einst, als ihn die Sennen hinein nach Mürren schickten, da traf er seinen Götti und klagte diesem, wie ihm das Leben draussen auf Winteregg zur Hölle werde. Halb im Scherz, halb im Ernst, gab der ihm Tadel und Rat: "Du bist etwa noch ein Rocklibuob, das Pootzi, das dir die Arbeit sauer macht, das ist reif zum Stechen, fürcht dich nicht, so geschieht dir nichts, nimm das Bartmesser( Messer zum Späne schneiden), wenn das Gespenst auf dem Stock noch einmal knurrt, spring hinauf auf den Trog und kitzle es herzhaft am Leib!" Der erschreckte Bub nahm alles für Ernst — ja wäger — und als an einem der nächsten Abende das Brunnengespenst wieder so misstönig in die Bergnacht hineinschnarchte, da sprang er entschlossen auf den Trog und stiess ihm das Messer in den Leib.
Ein Stöhnen, ein schwerer Fall, und als die Sennen mit der Sturmlaterne zum Brunnen kamen, da sahen sie, wie das rote Rinnsal unaufhaltsam rieselte. Der Alpmeister bettete den Kopf des Verletzten in seinen Schoss, legte die rechte Hand über die Wunde und raunte den alten Spruch der Blutbannung:
Holdsälig ist die Stunde,
Glücksälig ist die Wunde.
Holdsälig ist der Tag,
Da unser Heiland geboren war.
Aer sell sorgen, dass die Wund nid gicht Und nichts gebricht, ja, nichts gebricht!
Fort und fort aber rann das Leben aus dem wunden Leib des bösen Sennen. Da er ein arger Bursch gewesen, war alles umsonst. Mit dem letzten Seufzer hatte er Busse getan.
Bald unterbrach die nächtliche Stille auf Wintereggalp nur noch das sanfte Plätschern des Brunnens.
Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.