In der Nähe von Vallorbe stand vor Zeiten ein wundertätiges Muttergottesbild, bei dem von Nah und Fern fromme Beter, Wallfahrer und Pilgrime zusammenströmten, um Heil und Segen zu erflehen. Zu diesem Muttergottesbilde führte damals eine Brücke über die Doubs, welche von den Benediktinermönchen des Klosters Romainmôtier in Stand erhalten wurde, denen aber dafür das Recht zustand, von Jedem, der die Brücke passierte, einen Heller Zoll zu erheben, welches Amt ein von den heiligen Vätern eingesetzter Zöllner versah.
Von einem solchen Zöllner geht nun die Sage, einst sei spät am Abend eine Jungfrau zu Ross an die Brücke gekommen und habe über dieselbe hinwegbegehrt, da sie aber vergessen, den üblichen Zollpfennig beizustecken, habe ihr der hartherzige Mann trotz ihrer Bitten und der Angabe ihres Vorhabens, sie wolle für ihre todkranke Mutter daheim von dem Marienbilde Genesung erflehen, den Übergang verwehrt. Da nun die Jungfrau gesehen, wie unnütz es sei, weitere Worte zu verschwenden, habe sie ihr Ross mutig zu einem kühnen Sprung angespornt und sei über die Brücke hinab in den Fluss gesetzt, um so sein anderes Ufer und ihr Ziel, das gnadenspendende Muttergottesbild, zu erreichen; mitten im Fluss aber habe Ross und Jungfrau die Strömung erfasst und beide seien an den aus dem Wasser hervorragenden Felsenspitzen zerschellt und ohne Rettung untergegangen.
Schrecklich war aber die Strafe, welche den Urheber dieses traurigen Ereignisses ob seiner Hartherzigkeit ereilte. Jedesmal am Todestage der Jungfrau ward er um Mitternacht von Geisterhänden von seinem Lager hinaus an die Brücke gerissen; dort stand die durch ihn gemordete Jungfrau bleichen und blutigen Antlitzes im weißen Totengewande, schwang sich auf seinen Rücken und trieb ihn mit scharfschneidendem Schilfrohr, das ihr als Gerte diente, im wilden Laufe hin nach dem Marienbilde. Dort verrichtete sie das Gebet, das ihr der Hartherzige bei Lebzeiten versagt, und kehrte auf gleiche Weise wieder zur Brücke zurück, wo sie von dem Rücken des also gepeinigten Zöllners wieder im Wasser verschwand.
Nicht lange aber ertrug der Zöllner diese Strafe, nur noch zweimal hatte die Jungfrau auf seinem Rücken einen nächtlichen Ritt gemacht, als er vor der Zeit zum Greis geworden auch schon auf dem Sterbebette lag; erst kurz vor seinem Ende aber enthüllte er einem Klostergeistlichen die Ursache seines und des Todes der Jungfrau.
Diesem Ereignis zum Gedächtnis sah man noch vor einigen Jahren in der Kirche des Klosters ein geschnitztes Bild, das einen alten Mann auf Händen und Knien und eine Jungfrau auf seinem Rücken vorstellte.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.