Im X. Jahrhundert herrschte über das Königreich Burgundien, zu dem damals auch das Waadtland zählte, eine Königin, Namens Bertha. Das Volk nannte sie nur die Spinnerin oder die Demütige, wie noch heute zu Peterlingen unter ihrem Bilde auf der Mauer der alten Kirche steht. Beide Namen gebührten ihr mit Recht, denn sie wohnte weder in einem prächtigen Palast, noch war sie von einem glänzenden Hofstaat umgeben, noch schmückte sie sich mit Edelstein und güldenen Gewändern, wie die Königinnen unserer Tage pflegen; einfach und demütig wie die Hausfrau, von der die heilige Schrift sagt: „Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken und ihre Finger fassen die Spindel; sie breitet ihre Arme aus zu den Armen und reicht ihre Hände den Dürftigen.“ – so zog sie, den Rocken vor sich, auf ihrem Zelter spinnend durch ihr Reich und schlug bald dort, bald hier auf einem Bauernhofe oder auf einer ihrer Meiereien, deren Ertrag sie auf das Genaueste bis auf die Eier im Hühnerstall kannte, ihr Nachtquartier auf. Eine wahre Mutter des Volkes frug sie aber auf solchen Zügen nicht nur dem Wohl und Wehe ihrer Landeskinder nach, sondern sie trieb auch da, wo sie Trägheit und nachlässiges Gebühren sah, mit mütterlicher Strenge zur Arbeit und rüstigerem Handeln an, so dass sich überall der Wohlstand des Landes mehrte und den zu seinem Flore nötigen Lasten und Steuern, welche Königin Bertha nach seinem Ertrage verteilte, ohne Mühe und Beschwerde nachgekommen werden konnte.
Noch heute erzählen die Bewohner von Mont, oberhalb Lausanne, von der immer wandernden Bertha, und zwar nicht ohne Unwillen, sie habe, so oft sie vor einem Bauernhause Halt gemacht, sich jedesmal erkundigt, ob man ihrem Pferde Hafer oder Weizen gegeben, um so den Ertrag des Bodens zu erfahren und ihn nach seinen Erzeugnissen zu besteuern. Urbarmachung wüster Landesstrecken, Herstellung der Straßen, Gründung von Städten, Errichtung von Schulen und Klöstern und von Zufluchtsstätten für Arme und Kranke, das waren die Werke der guten und frommen Königin, welche, nachdem sie so, den Keim zu einer neuen gesitteten Gesellschaft legend, zur Vorsehung des Vaterlandes geworden, nun auch dessen Schild und Schirm ward, indem sie durch Erbauung fester Schutzwehren an seinen Grenzen dasselbe vor dem Einfall fremder Völkerhorden, der Ungarn und Sarazenen, zu schützen wusste. Auf manchem Hügel von den Alpen bis zum Jura herab sieht man noch Verteidigungswerke, an die sich der Name der Königin Bertha und die sie begleitende Sage knüpft.
Eines derselben ist der Turm von Gourze auf einem Vorsprunge des Jorat, nicht weit von Cully, den noch heute Berthas Geist umschwebt, das Land schützend und segnend. Jeden Winter, wenn feuchte Nebel dem nassen Boden entsteigen und sich auf den Abhängen der Berge lagern, erscheint sie in weißem leuchtenden Gewande über seinem grauen Gemäuer und streut aus voller Futterschwinge die Saat zu einer reichen Ernte aus. Später zur Weihnachtzeit in der heiligen Christnacht durchzieht sie als Jägerin, ebenfalls im weißen Lichtgewande, einen Zauberstab in der Hand, begleitet von einer luftigen Schaar neckischer Geister, Elben und Elbinnen, von dort aus ihr Reich, wie ehemals zu ihrer Lebzeit vor jedem Hause, vor jedem Hofe Halt machend, zu schauen wie es in oder auf demselben beschaffen sei. Wehe aber, wo sie nicht Alles in Ordnung findet, wo noch ungesponnener Flachs liegt, der Boden nicht gelüftet, der Keller nicht gegen eindringende Kälte geschützt, das Linnenzeug in den Kisten und Schränken nicht in Ordnung, Speise- und Mundvorrat nicht an rechter Stelle aufbewahrt, Staub und Schmutz unter den Treppen und in den Ecken aufgehäuft, das Vieh in den Ställen nicht besorgt, nachlässige Knechte und faule Mägde, schmutzig und ungekämmt, in ungemachten Betten liegen, böse Kinder den Eltern ihre alten Tage verbittern oder von wo die alte Zucht und Sitte vielleicht gar gänzlich gewichen – dort lässt sie sicher als Zeugen ihres Besuchs ein strafendes oder mahnendes Zeichen zurück, die Zeit im neuen Jahre besser zu nützen, achtsam, fleißig und tätig zu sein und von dem Wege des Bösen zum Guten wieder einzulenken, je nachdem, was sie vorfand, mehr oder minder strafbar war. Bald ist der ungesponnene Flachs unentwirrbar zu einem Knäuel geballt, bald sind die Bodenluken aus den Angeln gerissen, bald die Kartoffeln im Keller erfroren, bald ist das Linnenzeug in den Kisten und Schränken verstockt, bald der Mundvorrat verdorben, bald der Schmutz hinter den Türen und aus den Ecken durch das ganze Haus verstreut, bald schreit und lärmt das Vieh in dem Stalle, dass Knechte und Mägde erwachen; die Bettdecken vom Leibe gerissen, schrecken sie auf und stürzen schlotternd und zitternd vor Kälte nach den Ställen, im Glauben, der Marder sei unter die Hühner oder die Tauben geraten oder der Stier oder ein Hengst habe sich losgerissen, nichts aber von alle dem ist geschehen: ruhig und still sitzt das Hühnervolk auf der Stange, nichts regt sich auf dem Taubenschlag, deutlich und vernehmbar schnarchend liegen Stier und Hengst auf ihrer Streu im tiefsten Schlaf, dem Zeichen eines guten Gewissens. Beim matten Scheine der Stalllaterne glotzen Mägde und Knechte sich da an, erschrocken fragend: „Was war das?“ Ein schallendes Gelächter gibt Antwort auf diese Frage: es war Königin Berthas luftige Geisterschaar, die all' den Schabernack vollführt und nun desselben sich freuend mit ihrer Herrscherin weiter zieht.
Also lebt Königin Bertha noch in dem Andenken des Volkes segnend und mahnend, dem neuen Geschlechts noch heute was sie den dahingeschiedenen war: ein Vorbild des Guten.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.