Die Nichtstuerin

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein altes Mütterlein hatte eine schöne Tochter. Weil aber die Mutter mit ihren müden Gliedern nicht mehr am Spinnrocken sitzen und den Faden drehen konnte, hiess sie ihre Tochter es tun. Diese aber war zu ihrem grossen Kummer zu faul und zu träge zur Arbeit, und sie brachte sie nicht dazu, einen Faden anzurühren. Eines Tages sollte das Mädchen wieder am Spinnrad sitzen, tat es aber nicht. Da geriet die Mutter in die grösste Wut, nahm einen Stock, prügelte ihre Tochter und jagte sie zum Hause hinaus, indem sie noch ein Stück weiter hinter ihr drein lief und schrie: „Ich will sie nicht mehr in meinem Hause, ich will sie nicht mehr!“

Eben in diesem Augenblick kam ein junger Mann des Weges gegangen, sah diesen Auftritt, hatte Mitleid mit dem Mädchen und sagte zu der alten Frau: „Was macht ihr mit diesem armen Geschöpf? Schämt Ihr euch nicht, sie so zu behandeln?“ Die Alte erwiderte darauf schlagfertig, aber mit lügnerischen Worten: „Ach, sie hat einen argen Setzkopf, sie will nichts als den ganzen Tag am Spinnrocken sitzen, und jetzt habe ich keinen Hanf mehr. Darum will ich sie nicht mehr, sie soll selber schauen, wer ihr den Hanf und den Flachs geben will!“ – „Und aus diesem Grunde schlagt ihr sie auf solche Art? Wo habt ihr denn euren Verstand? Gebt mir dieses Mädchen zur Frau, alsdann soll sie von mir Hanf bekommen, soviel sie nur will“ Die Mutter, froh darüber, diese Faulenzerin auf solche Weise loszuwerden, willigte sogleich ein. Nach kurzer Zeit führte der junge Mann das Mädchen zum Altar, und sie hielten Hochzeit. Dann brachte er die junge Frau in sein Haus, und als die Festlichkeiten vorüber waren, kaufte er ihr eine grosse Menge Hanf, damit sie nach Herzenslust das Spinnrad drehen konnte. Darob geriet die Frau ordentlich in Verlegenheit und Betrübnis, denn sie konnte und wollte nicht spinnen. Was sollte sie mit dem vielen Hanf nur anfangen? Nach einiger Zeit sagte der Jungvermählte zu seiner Frau: „Morgen gehe ich fort in die Welt hinaus, um zu verdienen, und bis ich in einem Jahre und einem Tag wieder komme, muss dieser Hanf zu lauter Faden gesponnen sein.“ – „Ja, freilich“, gab die Frau zur Antwort, „ganz recht, sei nur unbesorgt, bis übers Jahr will ich dir alles getreulich verarbeiten.“ Also nahm der Mann Abschied und zog in die Welt hinaus.

Sechs Monate vergingen seit seiner Abreise, und die junge Frau hatte noch kein einziges Mal den Spinnrocken in die Hand genommen. Bald waren auch sieben, acht, neun, zehn Monate verflossen, ohne dass die Faule nur eine einzige Spindel voll Faden gedreht hatte. Immer mehr plagte sie jetzt das Gewissen, je näher der Tag heranrückte, wo ihr Mann zurückkehren sollte; immer mehr geriet sie in Aufregung und Bekümmernis. Und wenn sie auch jetzt hätte spinnen wollen, so hätte ihr tatsächlich die Zeit gefehlt, noch rechtzeitig mit der grossen Arbeit fertig zu werden und ihr Versprechen zu halten.

Eines Morgens kam ein Brief, worin ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Mann in den nächsten Tagen heimkehren werde. Jetzt geriet sie in Bestürzung und zermarterte ihr Gehirn, wie sie es anstellen sollte, eine Ausrede oder ein Märchen zu erfinden, um ihrem Mann etwas vorzutäuschen. Eines Abends hörte sie auf der Gasse draussen eine Stimme schreien. Es war nicht die gewohnte des Lumpensammlers, sondern eine raue, derbe Stimme, welche rief:

„Holla, holla, holla,

Der Spinnermann ist da!

Habt ihr den Krampf,

bringt mir den Hanf,

kommt schnell herbei,

sonst ist das Glück vorbei.

Holla, holla, holla,

der Spinnermann ist da!“

 

Die Faule schaute zum Fenster hinaus und rief den Mann in die Küche herauf. Der schmutzige Fremdling stieg sogleich die Treppen hinauf. Sie zeigte ihm die grosse Menge Hanf und sagte: „Da, dieser Haufen sollte gesponnen werden, aber ich muss ihn bis Samstag abend fix und fertig haben.“ – „Ei, ich kann euch den Faden noch vor dem Samstag fertig gesponnen bringen“, erwiderte der Unbekannte. – „Und was verlangt ihr für diese Arbeit?“ fragte sie weiter. „Ich will gar nichts dafür. Ihr müsst mir nur, wenn ich den Faden zurückbringe, drei Namen nennen, und wenn unter diesen drei Namen nicht der meinige ist, so trage ich euch samt dem Faden von dannen.“

Nach diesen Worten nahm der Spinner die fünf Säcke Hanf nacheinander auf den Rücken, lud sie auf einen Karren und ging fort. Jetzt war die junge Frau in noch grösserer Verlegenheit als zuvor, und es reute sie, dass sie einen solchen Ausweg gesucht hatte. Wie konnte sie denn nur den Namen jenes fremden Mannes erraten, den sie noch nie vorher gesehen hatte? Und wohin drohte er, sie wegzuführen, wenn sie seinen Namen nicht wisse? Und was würde dann wohl ihr Mann dazu sagen, wenn er sie nach seiner Rückkehr aus der Fremde nirgends fände? Ach Gott, warum hatte sie ihrer Mutter nicht besser gefolgt und das Spinnen nicht eifriger gelernt!

Am Abend nachher war kein Oel mehr im Hause. Sie nahm also einen Sack voll Baumnüsse und brachte sie in die Ölmühle, wo diese Nüsse ausgepresst wurden, um daraus das Oel zu gewinnen. Diese Ölpresse lag zuhinterst im Tal an einem Wildbach und wurde vom Wasser getrieben.

Als sie hinkam, war es bereits dunkle Nacht geworden. Da sah sie von Ferne eine grosse Helligkeit. Es war ein stark loderndes Feuer, welches ringsum eine grosse Hitze bereitete. Vor dem Feuer stand ein Mann, der sang und tanzte, und rings um die Flammen sass eine Schar Frauen, die spannen. Der Mann sang bei seinem Tanz die Worte:


“Holla, holla, holla,

Der Spinnermann ist da!

Dass Beelzebub ich wird genannt,

Ist jener Frau noch unbekannt,

Und morgen bring ich sie hierher;

Nach Hause kehrt sie nimmermehr!“

 

Sowie die Faule das hörte, atmete sie auf und war froh darüber. „Jetzt weiss ich doch, wie er heisst, und bin zufrieden, dass ich mich nicht mehr zu fürchten brauche.“

Am folgenden Samstag kehrte der geheimnisvolle Spinner wirklich wie versprochen zurück und hatte wahrhaftig all den vielen Hanf schon gesponnen. Er klopfte an die Tür und sagte: „Also, gute Frau, wisst ihr jetzt meinen Namen?“ Und dabei freute er sich bereits im Stillen, das er die Wette gewinne.

Und sie antwortete: „Heisst ihr nicht Pietro?“

„Nein – jetzt ist eine Antwort vorbei.“

„Oder Paolo?“

„O nein – jetzt sind’s zwei Antworten.“

„Dann heisst ihr gewiss Beelzebub!“

Als der Teufel diese Worte hörte, knirschte er vor Wut mit den Zähnen, warf die Fadenbündel zornig mitten in die Küche und machte sich mit lautem Gebrüll von dannen, um vermutlich wieder das Feuer zu schüren zuhinterst im Talgrunde.

Zwei Tage später sollte ihr Gemahl heimkommen. Da ging die Frau noch geschwind auf die Wiese, sammelte leere Scheckenhäuser und band sich dieselben auf den Rücken. Wie nun der Mann heimkehrte und seine Frau umarmte, hörte er, wie es krack, krack, krack machte, so dass er sie verwundert fragte: „Aber, was kracht denn so an deinem Rücken, dass es scheint, als hättest du alle Knochen zerbrochen?“ Und schlau gab sie zur Antwort: „Das zu viele Spinnen, mein lieber Mann, ist daran schuld, das hat mir die Knochen zerbrochen, ach Gott, das zu viele Spinnen!“ „Du liebe Frau“, erwiderte der Gatte, „mein Gott, wenn das so ist, nein, nein, ums Himmelswillen, dann darfst du mir nicht mehr spinnen. Ich will lieber eine ganze Frau und dabei zerrissene Leintücher, als gute Leintücher und ein Frau mit zerbrochenen Gliedern!“

Und wirklich brauchte sie von diesem Tag an nicht mehr ans Spinnrad zu sitzen, und siel lebten hernach glücklich bis an ihr Ende.

 

Märchen aus der Schweiz

Quelle: Walter Keller, Am Kaminfeuer der Tessiner

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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