Unlängst entdeckte man zu La Sarraz beim Nachgraben die Statue eines Ritters aus dem vierzehnten Jahrhundert, mit zwei Kröten auf den Wangen, und ein solches Paar auf dem Rücken. Man erzählt darüber folgende Sage:
In grauer Zeit lebte ein junger schweizerischer Ritter, der unter dem Namen Herr von La Sarraz bekannt war. Durch Mut und Entschlossenheit in den Schlachten zeichnete er sich aus, so dass der Graf, dessen Vasall er war, ihn bemerkte und auszeichnete. Er verliebte sich in dessen schöne und reiche Tochter. Man machte ihr den Vorwurf, sie habe ein kaltes Herz und sei stolz und unempfindsam; aber auf diese Fehler, welche ein junges Mädchen verunzieren, achtete der Herr von La Sarraz wenig. Er warb um ihre Hand, die man ihm zusagte, wenn er ihr zur Morgengabe dreihundert Bergkühe und einen Burgstall darreichen könne. Das war alles was seine Eltern besaßen. Da ihr einziger Sohn sich grämte, weil er nicht so viel zusammen bringen konnte, so überließen ihm seine zärtlichen Erzeuger alles was sie hatten, um sein Glück zu begründen. Nun verehelichte er sich mit seiner Geliebten.
Sein Vater und seine Mutter, die sich nichts zu ihrem Lebensunterhalt ausbedungen hatten, verfielen sehr bald in tiefes Elend. Der junge Herr von La Sarraz schien nichts davon wissen zu wollen. Es stellte sich ein harter und rauher Winter ein. Eines Abends, als der Schnee in dicken Flocken fiel und ein Eiswind stürmte, pochten sie am Burgstall ihres Sohnes. Man empfing sie, aber auf unfreundliche Weise. Während einiger Zeit gab man ihnen zu essen und zu trinken, aber man ließ ihnen merken, dass sie eine Last im Hause seien. Nun entschloss sich der Herr von La Sarraz, und sein unbarmherziges, Weib unterstützte ihn darin, Vater und Mutter zu verstoßen. Man führte sie also schlecht gekleidet, mit leerem Magen vor die Schlosspforte, die sogleich verriegelt wurde. Während sie nun Nachts auf holperigen Pfaden herumirrten, trauernd und weinend, saß der hartherzige Sohn vor dem flackernden Kaminfeuer an dem gedeckten Tisch, um den Imbiss zu verzehren. Man stellte ihm eine Wildpretpastete vor, die er sehr liebte, und eine Maß starkes, schäumendes Bier. Ohne Reue über seine Tat, wiegte er sich in einem weichgepolsterten Lehnsessel. Aber kaum hatte er die dicke Kruste abgenommen, welche den Deckel der Pastete bildete, so fuhr er mit einem fürchterlichen Schrei zurück. Seine Frau betrachtete ihn mit Entsetzen und rief nach Hülfe. Zwei garstige Kröten waren aus der Pastete gehüpft und hatten sich auf die Wangen des Kriegsmanns fest eingekrallt; sie schienen gesandt von einer höhern Macht. Nachdem das junge Weib den Ekel mühsam überwunden, den ihm die scheußlichen Tiere einflößten, strengte es alle seine Kräfte an, um sie von den Stellen abzureißen, welche sie angebissen hatten. Mit ihren starren, flammenden, grässlichen Blicken schienen sie die blutgefärbten Augen des Ritters verschlingen zu wollen. Alle Versuche der Knechte und Mägde, ihn von diesen Bestien zu befreien, blieben fruchtlos.
Nach zwei langen Stunden, welche Schmerzen und Beschämung erfüllten, dachte der Kriegsmann an sein Betragen gegen seine Eltern, und er fragte sich endlich, ob dieser fürchterliche Vorfall nicht eine göttliche Strafe sei? Er bat seine Frau, den Burgpfaffen holen zu lassen. Der Priester hörte die Beichte des Vater- und Muttermörders an, fand aber die Sünden zu gräulich, als dass er sie vergeben konnte. Er wies ihn an den Bischof.
Mit reuigem Herzen begann der Herr von La Sarraz die Reise. Die zwei Kröten verließen ihn nicht. Der Bischof empfing ihn; aber so wie er erfuhr, welcher großen Sünden gegen die kindliche Liebe er sich schuldig gemacht, wollte auch er den Himmel nicht mit ihm aussöhnen: „Der Papst allein,“ sprach er, „kann Euch diese Gnade spenden.“ Nun musste der Ritter nach Rom. Dort angekommen, warf er sich zu den Füßen des heiligen Vaters. Der Papst legte ihm eine harte Buße auf, damit der Sündenablass ihm fruchten möge; dann sagte er zu ihm: „Geht, um Euern Vater und Euere Mutter aufzusuchen, und wenn sie Euch verzeihen, so wird das Schandmal verschwinden, womit Euch Gott gezeichnet hat.“
Der Herr von La Sarraz kehrte nach der Schweiz zurück; aber wo sollte er seine Eltern finden, die er verstoßen hatte? Während drei Monaten suchte er sie mit unermüdlichem Eifer auf. Endlich fand er in einer einsamen Einsiedelei die Leichname eines bejahrten Mannes und eines alten Weibes, welche schon längst aus Hunger und Kälte gestorben waren. Sogleich erkannte er seinen Vater und seine Mutter an den hagern, weißblassen Zügen; er warf sich vor denselben auf die Kniee und vergoss bittere, reuevolle Zähren. Sogleich verließen die zwei Kröten seine Backen; da aber die Vergebung der sterbenden Eltern die göttliche Gerechtigkeit nicht hinlänglich befriedigt hatte, so wichen sie noch nicht gänzlich, sondern krochen auf den Rücken des Ritters, wo sie zwanzig Jahre lang fest angeklammert blieben, und wo er sie sorgfältig verborgen hatte.
Nach diesem Zeitpunkt wurde der Herr von La Sarraz von seinem Sohne erstochen, der nach seinem Vermögen lüstern war. Dieser unnatürliche Sohn ward die Beute eines grimmigen Bären. Der Burgstall kam an eine Seitenlinie des Geschlechts. Zum Andenken des Vater- und Muttermordes errichtete man in der Kapelle eine Ritterstatue mit zwei Kröten auf Wangen und Rücken.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.