Zweimal des Jahres, jedoch nicht zu einer bestimmten Zeit, öffnen sich in dunkler Mitternachtsstunde, wenn kein Sternlein aus düstern Wolken sein Licht herniedersenkt, und die schauerliche Stille bloss durch das Gekrächze der Nachtvögel und das geheimnisvolle Flüstern der Wellen unter den alten Mauern unterbrochen wird, die Tore der Burg Gottlieben. Der Boden erdröhnt unter dem eisernen Fusstritt Gewappneter; man hört das Klirren von Waffen und Ketten und mitunter den dumpfen Wehlaut eines Jammernden. Man sieht nichts, hört aber deutlich, dass der Zug nach dem Tägermoos sich bewegt und endlich dort einen Halt macht. Daselbst angekommen, vernimmt man ein stärkeres Waffengetöse und dann ein dumpfes Hin- und Herrennen wie von vielen Leuten. Plötzlich wird alles still. Dann erscheinen, so viel sich nach dem Gehör vermuten lässt, mitten unter den Reisigen zwei dunkle Gestalten, welche auf dem Kopfe brennende Lampen tragen. Sie stehen nahe beieinander, leicht hin- und herschwankend. Endlich hört man ein sonderbares Zischen, die Lichter erlöschen, die Gestalten verschwinden.
Dies ist die Hinrichtung des Huss und Hieronymus in Prag, zu deren jährlichen Wiederholung alle diejenigen verdammt sind, welche bei jenem furchtbaren Trauerspiel tätig waren.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch