Als Kaiser Karl der Große sich mit seinem Hofstaat in der alten Stadt Zürich aufhielt und das Chorherrenhaus, zum Loch genannt, bewohnte, ließ er an dem Orte, wo Felix und Regula, die heiligen Märtyrer, von der thebaischen Legion enthauptet worden waren, eine Säule mit einer Glocke aufrichten und im Lande bekannt machen, dass der, so wider Andere Recht begehre, an dieser Glocke ziehen solle, wann er, der Kaiser, zu Tische sitze, und Jedem, der da Recht begehre, würde Recht werden, wenn er solches habe.
Da nun begab es sich, dass, als der Kaiser eines Tages bei Tafel saß und er den Ton der Glocke gehört hatte, die Diener, denen er befohlen, nachzuschauen, wer da Recht begehre, mit der Meldung zurückkehrte, dass an der Säule Niemand zu erblicken sei. Als aber hierauf die Glocke noch zu öfteren Malen ertönte und dem Kaiser immer die gleiche Meldung überbracht wurde, da befahl er den Dienern nochmals nachzuschauen, das Mal aber wohl Acht zu haben, was sich an der Säule noch ferner ereignen möge. Da nun die Diener dies taten und sich in einen Hinterhalt legten, um unbemerkt zu sein, sahen sie einen Wurm sich der Säule nähern, der sich um den Strick daran schlang und die Glocke also anzog, dass sie läutete. Als nun der Kaiser dies Wunder, das man ihm treulich berichtet hatte, vernommen, erhob er sich alsbald von der Tafel und ging hin, um dem Wurme Recht zu sprechen gleich den Menschen.
Da nun, als der Kaiser auf den Platz zu der Säule kam, wo die Schlange war, neigte sich diese vor ihm als dem Herrn, dann aber schaute sie ihn an, bittend, als wollte sie sagen: „Folge mir!" Dies verstand der Kaiser gar wohl und gütig wie er war, war er auch sofort bereit, der Aufforderung des Wurmes nachzukommen. Als aber die Schlange die Bereitwilligkeit des Kaisers sah, machte sie sich alsbald auf und kroch, dem Kaiser den Weg zeigend, vor ihm her nach dem Gestade des Sees zu dem Orte, da sie ihr Nest hatte. An diesem Orte aber angekommen, zeigte sich bald die Ursache dieser merkwürdigen Begebenheit: denn siehe, eine Kröte von ungemeiner Größe saß in dem Neste, brütend über den Eiern der Schlange. Da befahl der Kaiser, die Kröte hinwegzunehmen und fällte ihr, als frechen Eindringling in fremdes Eigentum, das Urteil, dass sie bei lebendigem Leibe verbrannt werde — ein Urteil, das auch alsbald vollzogen wurde. Als aber einige Tage nachher der Kaiser wiederum bei Tische saß, stellte sich die Schlange plötzlich nochmals bei Hofe ein, und kroch, als man sie vor den Kaiser gelassen, auf die Tafel, an der er saß, stieß den Deckel von seinem Pokale und ließ in denselben einen kostbaren Edelstein als Zeichen ihrer Dankbarkeit fallen, worauf sie, nachdem sie sich wie zum Abschied vor dem Kaiser geneigt hatte, verschwand und niemals wieder erblickt wurde.
Den Stein aber, den der Kaiser von der Schlange erhalten, hob er als eine große Kostbarkeit zum Angedenken an das Wunder auf und schenkte ihn endlich seiner Gemahlin zum besondern Liebespfande. Dieser Stein aber hatte die Kraft eines Liebestrankes; denn von der Zeit an, da die Kaiserin den Stein besessen, hat ihr Gemahl sie niemals verlassen können und ist derselbe immer in große Betrübnis verfallen, wenn er nicht bei ihr war. Daher auch die Kaiserin diesen Stein, dessen Kraft sie wohl erkannt hatte, in ihrer letzten Krankheit, als sie zum Sterben kam, nicht von sich ließ und unter ihrer Zunge verbarg, da sie nicht wollte, dass er in die Hände eines anderen Weibes komme, welches der Kaiser alsdann hätte lieben müssen, während er ihr, der Toten, vergessen hätte. So wurde die Kaiserin einbalsamiert und mit dem Wunderstein begraben. Da aber der Stein auch noch nach ihrem Tode seine Wirkung nicht verlor, ließ der Kaiser, ihr Gemahl, sie wieder ausgraben und sich nachführen überall, wo er hinging. Dies dauerte achtzehn Jahre, bis einer von den Hofleuten, der die Kraft des Steines kannte, ob der fortdauernden Anhänglichkeit des Kaisers an die Leiche seiner Gemahlin mutmaßete, der Stein möge an derselben verborgen sein; worauf er sie auch durchsuchte, bis er endlich das Kleinod unter der Zunge der Toten fand, welches er nun für sich verwahrte.
Als dieses geschehen, ging die große Liebe, welche der Kaiser bisher für seine Gemahlin gehegt hatte, auf jenen Hofbedienten über, so dass er ohne diesen nicht mehr leben konnte. Einige Zeit nachher begab es sich aber, dass dieser Ritter auf einer Reise nach Köln, wegen eines gefassten Unwillens, den Stein an einem „stinkenden Ort" bei einem Brunnen hinwarf, so dass hernach ihn Niemand mehr finden konnte. Mit dem Stein war jedoch auch die Liebe des Kaisers zu dem Ritter geschwunden, an deren Stelle jetzt ein fortwährendes Verlangen nach dem Orte trat, wo der Stein lag, so dass der Kaiser dort eine Stadt zu gründen beschloss, welche fortan sein Wohnsitz sein sollte.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.