Auf dem Bergrücken des Irchels liegt das Pfarrdorf Buch. Auf dem Wege nach diesem Dorfe steht am Stammberge eine rote Buche. Von ihr erzählt man Folgendes:
Zur Zeit einer furchtbaren Hungersnot, welche so groß war, dass die Menschen selbst zu Nahrungsmitteln greifen mussten, welche sie sonst verabscheuen, lebten in einer Hütte am Abhange eines der hohen Hügel jenes Bergrückens zwei Brüder in der vollsten Blüte des Lebens und bis dahin in wahrhaft brüderlicher Eintracht. Nachdem sie alle ihre Lebensmittel aufgezehrt hatten und ihre Zuflucht bei den Wurzeln des Waldes nehmen mussten, geschah es eines Tages, dass eine Feldmaus aus dem Boden emporsprang. Die Brüder stürzten über diesen Leckerbissen her und es gelang einem von ihnen, sie zu erhaschen und sie, ohne seinem Bruder davon etwas abzugeben, ganz allein zu verschlingen. Darüber ergrimmte dieser dermaßen, dass er den sonst geliebten Bruder mit einer Keule tot darniederschlug. Das warm dahinrinnende Blut des Erschlagenen aber netzte die Blätter eines an jener Stelle emporkeimenden Buchensprösslings, unter dem der Leichnam auch eingescharrt ward.
Lustig wuchs die Buche über dem Grabe des Erschlagenen empor, ihre Blätter aber, welche sein Blut genetzt, nehmen jedesmal an den Festen der Pfingsten und der Himmelauffahrt zum Angedenken an jene ruchlose Tat eine blutrote Färbung an, nach welcher Zeit sie wieder in sanftes Dunkelgrün übergehen; daher noch heute an diesen Festen die Stätte, wo die Wunderbuche steht, ein Wallfahrtsort der Jugend jener Gegend ist, welche mit Blättern von ihren Zweigen geschmückt, von dort erst spät am Abend nach ihren Wohnungen heimkehren. Sprösslinge von ihr nach anderen Orten verpflanzt, sollen nie zu irgend einem Gedeihen gekommen sein.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.