Bei Gambs in der toggenburgischen Gemeinde Wildhaus im Kanton St. Gallen liegen auf einem Felsen die Trümmer der Wildenburg. Ein großer finsterer Turm ist das einzige merkliche Überbleibsel dieser einst so starken Feste. Hohe, schroffe und nackte Felsen, zwischen deren Zacken spärlich hier und da eine düstere Tanne hervorlugt, bilden seine Umgebung – eine schauerlich wilde Gegend, der geeignete Wohnort jener gespenstischen Spukgestalten, die der Sage nach dort ihren Sitz aufgeschlagen haben.
Im Schutt und Sand der Wildenburg liegen ungeheure Schätze, gehütet von zehn der hässlichsten Kobolde und Gnomen. Das sind die Zwingherren, die zum Schrecken des Volkes auf der wilden Burg wohnten, und die zu ewiger Strafe, Tyrannen zur warnenden Lehre, in den schrecklichsten Gestalten nun ihr zusammengestohlenes Gut Tag und Nacht bewachen müssen. Um Mitternacht, zur Geisterstunde, wenn kein Sternlein glimmt, kriechen sie aus ihren Höhlen hervor, springen herum, leuchten wie Irrwische, raufen sich die Haare, toben und heulen, dass es den Leuten in der Nachbarschaft Mark und Bein erschüttert und die Alpen bewegt. Zu gewissen Zeiten ändern sie ihre Gestalt, die nie ihres Gleichen hat. Das Eine dieser Ungeheuer ist jung und frisch, das Andere alt und kränklich, wieder Eines ganz schwarz; bald erscheinen sie als Riesen, bald als Zwerge, voll Höcker und so fort, zuweilen aber auch als Schweine, Hunde, Katzen und Tiger und als langgehörnte Böcke, die bei jedem Atemzug Höllendampf von sich blasen. Wenn die Quatember- oder andere heilige Zeiten herannahen, spuken sie in der Gegend weit umher.
Dem wildenburger See entlang, wo mancher Berggeist schon ertrank, wandelt eine alle Matrone, die, wird sie Jemand gewahr, eifrig sich die Hände reibt, und klagt und winselt. Dem Wanderer nahe, rümpft sie die Nase und zugleich wird sie zu einem sich immer und immer verlängernden Rüssel, womit sie nach Beute hascht. Glücklich, wer dann im Schleier der Nacht Schutz und Rettung findet.
Weiter vorwärts stößt man wieder auf einen gewaltigen Mann mit großem breitgeränderten Hute, und eingehüllt in eine weite schwarze Kutte, vollkommen ähnlich einem schwarzen Mönche. Zuletzt steht noch mitten in der Straße ein Ungetüm mit Zigeunerbart und Räuberblick, welches den Weg verrammelt.
Alle diese Ungeheuer zusammen leben in ewigem Hader. Tritt einmal ein ruhiger Augenblick ein, so sitzen sie um ihre reichen Kessel, zehnmal größer als die, worin man Käse kocht, und zählen schäckernd ihr Gold. Plötzlich werfen sie dann Alles wieder hin, sich selbst mit geballten Fäusten schlagend, und so quälen sie sich, bis endlich die ausgestandene Pein ihre verübten Grausamkeiten sühnen wird.
Nach ihren Schätzen waren schon manche lüstern, aber von den Einheimischen hat keiner das Herz, sich mit den mächtigen Gnomen zu schlagen, die an der eisernen Pforte der grauenvollen Gewölbe Wache halten. Da geschah es, dass aus den Laguneninseln des adriatischen Meeres viele Menschen auswanderten und sich in alle Winkel der Erde zerstreuten. In Wildhaus, wohin sie auch kamen, kannte man sie unter dem Namen Venediger und sie wurden als Hexenmeister und Tausendkünstler geehrt und gefürchtet.
Ein solcher hatte auch Lust, die hässlichen Geizhälse in der Burg zu plündern, wollte aber vorerst auf ein Mittel denken, wie er sie blenden konnte. Nach langem Grübeln besann er sich endlich wieder, wie man die Ungeheuer mit der weißen Ziegenkrautblume, wie man sie nennt, banne, die jedoch unglücklicher Weise höchst selten wächst. Dies hielt ihn aber nicht ab, die höchsten Alpen zu durchstreifen, bis er sie fand. Nun machte er sich mutig auf den Weg zur berüchtigten Höhle. Beim wildenburger See stieg er in den unterirdischen Gang hinab, der vor Zeiten in die Burg führte, und nach wenigen Minuten stand er an einer großen, eisernen, mit schweren Barren kreuzweise belegten Türe, die sich ihm, auf die Berührung mit seiner Zauberpflanze, krachend öffnete. Und er betrat eine leere Felsenkammer, und finster, wie die schwarze Nacht, nur zuweilen vom Strahle des Goldes, wie von einer Wetterleuchte feurig durchblitzt. Furchtlos und ohne Rast legte er nun Hand ans Werk, raffte von den zahllosen Goldklumpen, die an den Wänden herumlagen, was sich tragen ließ, zusammen, und versprach sich schon im Voraus, recht bald wieder zu kommen, als ihm auf einmal, als er eben abziehen wollte, mit leisem Wimmern ein unsichtbares Wesen zuflüsterte: „Laß's Best' nicht liegen, laß's Best' nicht liegen!!" Darob erschrak der goldgierige Mann; folgsam, nach gegebenem Rate, besah er noch einmal seine reiche Beute und eilte damit schaudernd von dannen. Erst beim schmetternden Schlusse der Türe erinnerte er sich, dass er das Beste vergessen habe, die weiße Ziegenkrautblume! – Von nun an wagte sich Niemand mehr dahin, lieber grub man sich Gold im Gebirge, dessen Eingeweide an diesem köstlichen Metalle so reichhaltig gewesen sein sollen, dass einst ein anderer Venediger, der sich durch seine Zaubereien das Leben verwirkt hatte, eine goldene Kette um die Stadt Lichtensteig zu schmieden versprach, wenn er begnadigt würde.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.