Männiglich ist bekannt, dass im Jahr 1435 plötzlich zwei ganze Straßen der Stadt Zug in den See versanken; aber nur die Volkssage erzählt uns, wie dies zugegangen, warum und was aus den Versunkenen geworden.
Es heißt nämlich, ein See- oder Wasserfräulein sei in den Sohn des Ratsschreibers verliebt gewesen, und dieser habe ihre Minne erwidert. Lange trieben sie heimlich ihr süßes Spiel; da erschien die Nixe ihrem Geliebten eines Abends mit weinenden Augen und sprach: „Es ist das letzte Mal, dass du mich siehst. Mein Vater, welcher in den Tiefen des Sees herrscht, hat meine öftere Abwesenheit entdeckt, mich zu Rede gestellt, und ich habe ihm – gestanden. Er geriet in heftigen Zorn und verbot mir den Umgang mit dir für ewig; es sei denn, du folgest mir hinunter in die Tiefe und lebest mit mir als Gatte in einem ehelichen Verbande.“ – „Aber wie kann das geschehen?“, entgegnete seufzend der Jüngling; „Das Wasser ist ja nicht mein Element und du forderst meinen Tod.“ – „Mit Nichten!“, war des Wasserfräuleins tröstende Antwort: „Trinke von diesem Wasser und du wirst unten in der Flut so gut leben können, als ein Fisch.“ – Der Verliebte trank, tauchte gläubig mit der Nixe unter und lebte einige Zeit herrlich und in Freuden in den Kristallpalästen des Seekönigs an der Seite seiner schönen Gattin. Allmählich aber schlich sich ein schmerzliches Heimweh in sein Herz; er gedachte seiner Eltern, Geschwister und Freunde auf der Oberwelt, gedachte der Freuden seiner alten Heimat bei Hochzeiten, Ringen und Alpfahrt und an die Freuden des Himmels, zu welchen Glocken und Orgelklang ihn riefen. Innig besorgt für den immer trauriger Werdenden, entlockte ihm die Nixe endlich das Geheimnis seiner Empfindung und beschloss, die Sehnsucht des Geliebten nach Möglichkeit zu befriedigen. Sie vertauschte in einer Nacht alles Wasser in den Küchen der beiden Straßen mit jener Flüssigkeit, welche die menschliche Natur fähig macht, auch unter den Fluten leben zu können, und am Morgen darauf versanken, mitten in den Freuden eines Festtages, jene beiden Straßen plötzlich in den See. Keiner der Versunkenen ertrank; ihre Wohnungen kamen unversehrt auf den Grund des Sees zu stehen, und der Sohn des Ratsschreibers fand seine Eltern, Verwandten, Bekannten und Freunde wieder. Bei sehr klarem Himmel können besonders scharfe Augen nicht nur die Giebel der Häuser, sondern auch das geschäftige Treiben auf den Straßen wahrnehmen. Oft Dringen die Glockenklänge der versunkenen Kirche, vermischt mit wunderbarem Orgelton aus der Tiefe des Sees, und die Schiffer, die es hören, ziehen die Ruder aus dem Wasser, bekreuzen sich und beten ein andächtiges Paternoster.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch