Jenseits der hohen Bergspitze, Sureneneck genannt, zu der man von Uri aus über die Alp Waldnacht gelangt, liegen die weidenreichen Surener- oder Surneralpen, auf welchen vor etlichen hundert Jahren sich folgende Geschichte zugetragen haben soll.
Ein Älpler, so erzählen die Engelberger und Urner, liebte von seiner Herde ein Schaf dergestalt, dass er auf den Gedanken kam, dasselbe unter Nachahmung der christlichen Gebräuche zu taufen.
Zur Strafe dieser Untat wurde dieses Schaf von Gottes gerechtem Zorn in ein fürchterliches Ungeheuer verwandelt, welches auf den genannten Alpen unter dem dort weidenden Vieh eine so arge Verwüstung anrichtete, dass diese bald zu einer öden Wildnis und von dem Gotteshaus Engelberg an den löblichen Ort Uri um einen geringen Wert verkauft wurde.
Da endlich nahmen die Urner auf Anraten eines fahrenden Schülers ein Kalb, das sie neun Jahre hintereinander mit Milch ernährten und zwar so, dass es das erste Jahr von einer Kuh, das andere Jahr von zwei, das dritte Jahr von drei Kühen und sofort die Milch erhielt. Nachdem die neun Jahre verflossen und das Kalb zu einem wahren Riesenstier herangewachsen war, wurde es von einer reinen Jungfrau auf die verödeten Surenenalpen geführt, wo es bald mit dem zum Ungeheuer verwandelten Schaf zu einem schrecklichen Kampfe kam, der mit dem Tod des letztern endete. Der Stier aber soll, erhitzt von der Anstrengung des Kampfes, „in vollem Schweiß aus dem vorbeifließenden Bach getrunken, dass er darüber auf der Stelle tot geblieben."
Die Älpler zeigen nicht nur den sogenannten Stierengaden auf der Alp Waldnacht, aus welchem der Stier, der Sage nach, ernährt wurde, sondern auch das Merkmal seiner Klauen, das sich während des Kampfes in dem harten Stein eingeprägt haben soll.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.