Im Burgerwald ob Muschels wohnte einst eine winzig kleine Art Menschen, die man die grauen Zwerge nannte, und die bald sichtbar, bald unsichtbar waren. Sie hielten sich meistenteils in den Klüften und Felsen auf, und liessen sich nur von Zeit zu Zeit sehen.
Ein alter Mann, Namens Hans Aeby, bewohnte ein entferntes Haus, genannt "in der Gomma", am Saum des grossen Waldes, welcher den Bürgern von Freiburg gehört. Seine ebenfalls sehr bejahrte Frau befand sich zu jener Zeit bei ihm. Sie hatten zu ihrem Unterhalt bloss ein paar Geissen, von deren Milch sie lebten, wozu noch Käse und Brot oder Erdäpfel kamen. Es war an einem kalten, trüben Winterabende, da wurde vor dem Hause mit heller Stimme laut gerufen: "Hans Aeby, sag dem Appele, Appela sei tot."
Darauf hörte der Erschrockene ein leises Geräusch in einem Winkel seiner Stube; ein unsichtbarer Geist ging durch das Zimmer, weinte und schluchzte kaum vernehmbar, und bald darauf blieb alles wieder still und ruhig. Hans Aeby, voll Kummer ob diesem Spuke, legte sich frühzeitig zu Bette. Um Mitternacht herum wachte er plötzlich auf. Die gleiche Silberstimme wie am Abend liess sich hören, und klang gar entsetzlich bis zu seinen Ohren: "Hans Aeby, sag dem Appele, d'Appela sei tot!" - Er sprang aus dem Bette und ans Fenster, das er schnell öffnete, aber er fuhr mit Entsetzen zurück, denn auf der beschneiten Wiese, welche der Mond blass beleuchtete, zogen zahlreiche Zwerge vorüber. Einige hatten kurze, schwarze Mäntel um; andere trugen Fackeln. Ihre Weiber schienen vermummt, wie die deutschen Bauersfrauen, die, wenn sie zur Leiche gehen, bis auf Nase und Augen mit weissen Tüchern nonnenartig verschleiert sind. Endlich kamen einige langsam dahin schreitend mit einem Sarge, unter dessen Last sie zu erliegen schienen. Alle erhoben ein düsteres Trauergewimmer, und dann verschwanden sie für und für im nahen Walde, in welchem die Klagetöne noch dumpf erschollen, und sich endlich ganz verloren.
Die Furcht hatte Hans Aeb beinahe versteinert; da wehte ihn die kalte Nordluft an; er schauderte zusammen; wie aus einem Grabe schien ein faulender Mordgestank in seine Geruchsnerven zu dringen. Er schloss das Fenster wieder zu, kroch halb erfroren in sein Federnest, in welchem seine Frau tüchtig schnarchte. Als er am andern Morgen durch das Meckern seiner hungernden Ziegen endlich aus seinem langen Schlafe geweckt wurde, stand ein Bote draussen, der zu ihm sagte: "Gelobt sei Jesus Christus! Euer Schwager Jost, von der Gauglera, schickt mich zu Euch, und lässt Euch melden, in der letzten Nacht sei d'Appela, Eure Schwiegermutter, plötzlich an einem Schlagflusse gestorben, und morgen werde man sie zu Rechthalten begraben."
Und so geschah es auch.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch