In jener uralten Zeit, in der noch in den Tälern des Berner Oberlandes die Sitte herrschte, dass sich die Jungfrauen von allen Jünglingen streng zurückzogen, kam zu jedem sich folgenden Menschengeschlechte aus dem wildesten Hochgebirg eine steinalte, graue, von den Jahren gebeugte Frau, die Frau Ude die Gute hiess, und von dem Augenblick an, dass Menschen jenes Gelände bewohnten, daselbst gehaust hatte, wenn auch niemand das Obdach kannte, wo sich die Alte während der Zeit ihres Fernseins aufhielt. Frau Ude die Gute sah scharf und war an seltenen Künsten reich, ob sie schon lebenssatt, kraftlos und mehr tot als lebendig zu sein das Aussehen hatte. Geschäftig trippelte sie von Hütte zu Hütte, lud alles Hausvolk an die Tür, griff den Mädchen ans Kinn, sah sie mit blinzelnden Luchsaugen an, und endigte jedes Mal mit dem Reimen:
Du, du, du, ja du!
Diesmal wieder Ruh!
Hätt' ich keine gfunden mehr,
litt ich siebenmal so schwer.
Dann nahm sie lächelnd das Mädchen bei der Hand, zu dem sie den Spruch gesagt, und trippelte weiter, und allemal ohne zu fragen, ohne zu zaudern, geradehin nach dem Hause des Reichsten und Besten und Schönsten der Jungesellen im Tal, und dem legte sie die Hand des Mädchens in die Rechte, sah ihn nickend an, und hinterliess im Herzen des Junggesellen eine Liebe voll Inbrunst zu dem Mädchen, das sie dergestalt ihm vorgeführt hatte. Und allemal war eine glückliche Ehe zwischen den beiden; das gesamte Talvolk jubelte, jedermann lud sich zur Hochzeit ein, und niemals hat irgend ein Vater, irgend eine Mutter die Wahl der Frau Ude für Sohn oder Tochter abgelehnt: denn jedesmal war das Mädchen als die Reinste unter den Reinen im ganzen Talgelände erfunden, der Jüngling als der Beste von den Besten.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch