Als Ahasver auf seiner ewigen Wanderung zum ersten Male die Alpen überschritt, und zwar kurze Zeit nach seiner Verfluchung, wählte er die Grimsel zum Uebergangspunkte. Entfesselt bis zu ihren Quellen, welche aus dem Schoos der Berge hervorbrachen, rauschten Rhone und Aare, und wie jetzt an dem fröhlichen Rheinstrome, lebte ein munteres Geschlecht an ihren Ufern. Die sonnigen Berge waren umkränzt von Reben, Eichen und Buchen wiegten ihre grünen Häupter in den lauen Winden einer warmen Luft, und Scharen von Singvögeln belebten die dichten Waldungen. Hinter Obstbäumen versteckt, ragten stattliche Dörfer inmitten des fruchtbaren Geländes. Wo der Wanderer anpochte, trat man ihm entgegen und lud ihn gastfreundlich ein, sich zu erquicken an dem edlen Weine, den die Halden in überschwenglicher Menge lieferten. Aus den hellen Wohnungen, den frischen Gesichtern der Kinder wie der Alten, glänzte das Wohlbehagen. Aber nicht weilen durfte der Unglückliche in dem Lande des Glückes; sein irrer Fuss trug ihn weiter nach dem Norden.
Mancher Jahreswechsel war über des nimmer ruhenden Haupte dahin gerauscht, und er fand sich wieder in der Nähe der Alpen. Er gedachte des glücklichen Volkes, das er damals getroffen, der gewinnenden Herzlichkeit, womit er empfangen und erquickt worden war, des schönen Landes, das er damals durchstreifte. Er beschloss, sein Herz noch einmal an dem Anblicke zu laben. Aber düstere Ahnungen beklemmten seine Brust, als er die Maienwand hinan schritt. Dicker Nebel verbarg ihm das umliegende Land. Droben angelangt, sah er ihn zerstieben von einem gewaltigen Windstosse der aus dem Haslitale hervorbrach. Er glaubte verirrt zu sein. Dunkle Fichtenwälder bedeckten die steilen Flanken des Gebirges, die hohen Stämme knarrten unter der Wucht des Sturmes, der ihre Wipfel schüttelte, und heisere Raben und lichtscheue Eulen begleiteten mit misstönendem Krächzen und wimmerndem Klageton das Geheul des Windes in den finstern Klüften. Er suchte lange vergebens menschliche Wohnungen; endlich fand er ein paar Hütten, dann wieder etliche. Die Köhler, welche sie bewohnten, ein gutmütiger, aber ernster und schweigsamer Stamm, teilten mit ihm was sie hatten, schwarzes Brot und Bier, aus den jungen Sprossen der Tannen gebraut.
Abermals, nach vielen Jahren, betrat der ewige Jude das bekannte Gebirge. Der Pfad, den er früher gewandelt, war verschüttet. Kein Vogelgesang, kein Rabengekrächz schallte ihm entgegen. Ueber kahle, nackte Felsen strauchelte sein Fuss, hier und da nur grünte ein spärlicher Grashalm. Todesschweigen herrschte, nur manchmal pfiff in durchdringendem Tone das scheue Murmeltier. Und an den Bergeshalden, wo früher Reben gegrünt und Eichen das lockige Haupt gewiegt hatten, an denselben Halden, die später Fichten getragen, da hingen jetzt mächtige Eismassen herab, und die wilden Schluchten waren erfüllt von gigantischen Gletschern. Aus dem Schnee aber ragten zerrissene Felsnadeln in finsterer Majestät, welche sich gen Himmel zu schwingen schiene und den eisigen Winden trotzten, welche um ihre Gipfel schnoben. Vom Menschen sah Ahasver keine Spur, und er, der Verfluchte, war das einzige Wesen dieses Geschlechtes in der Gegend, die mit ihm unter ähnlichem Fluche zu seufzen schien. Und Ahasver setzte sich auf einen Stein in der Tiefe des Thales, wo ringsumher die Felswände ihn einschlossen und weinte, und seine Tränen schwollen an, und als er erleichterten Herzens den Rücken wandte, um in das Hasletal hinabzusteigen zu bewohnten Gefilden, hatten die Tränen einen kleinen See gebildet. Dessen Wasser sind, trotz der vielen Zuflüsse aus den Gletschern umher, warm, wie die ersten Tränen Ahasver's.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch