Auf der Sulsalp fand einst ein Hirt einen goldenen Schlüssel und zu gleicher Zeit erblickte er in einer gegenüberliegenden Felswand eine grosse schwarze Türe, welche er vorher noch nie daselbst wahrgenommen hatte. Mutig ging der Bursche darauf los, denkend, dass der gefundene Schlüssel wohl zu jener Türe gehören möge. Dies war auch richtig der Fall und als die Türe geöffnet war, sah er eine grosse, weite, reich mit Gold und Edelsteinen ausgeschmückte Halle vor sich, in der sonst noch viele Kostbarkeiten rings auf langen Tischen ausgebreitet lagen. In der Mitte der Halle stand aber eine schöne weiss gekleidete Jungfrau. Diese trat auf ihn zu und bot ihm drei Gaben an, indem sie sagte, sie sei verzaubert und harre schon mehr denn hundert Jahre auf ihre Erlösung; welche Gabe er wähle, darauf käme es an, ob sie von dem Zauber befreit werde, oder auf nochmals hundert Jahre verdammt sei. Die Gaben aber waren: ein Topf mit Gold, eine goldene Kuhschelle und die Jungfrau selbst. Da erinnerte sich plötzlich der Hirt an seine Geliebte daheim und wählte die Kuhschelle. Zornig fuhr die Jungfrau auf und zugleich erhob sich ein furchtbares Donnern und Krachen, und wie von unsichtbarer Hand ergriffen riss es den Hirten aus der Halle heraus, wo er betäubt auf den Rasen niedersank. Als er wieder zu sich kam, hätte er gerne alles für einen Traum gehalten, die Kuhschelle, welche neben ihm lag, überzeugte ihn jedoch von dem Gegenteil. Da ergriff ihn bittere Reue, dass er nicht die richtige Wahl getroffen und nun schuld sei, dass die schöne Jungfrau auf noch weitere hundert Jahre in dem Zauber schmachte. Ohne Ruhe und Frieden durchirrte er von da an die Welt. Da kam er auch einstmals an eine Hütte, in der drei steinalte Männlein wohnten, und als er dem ältesten derselben, welcher der Grossvater des jüngsten war, seine Geschichte erzählte, rief ihm dieser zu: Wohl dir, dass ich Gastfreundschaft halte; heute magst du noch rasten, aber morgen eile von dannen. Jene Jungfrau war meine Tochter, du konntest sie erlösen und hast sie vielleicht nun auf ewig unglücklich gemacht.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch