Wenn man aus dem Domleschger Tale gegen Reichenau wandert, wo die beiden jungen Rheine sich vereinigen, und hinüberblickt an die Gebirgskette, welche die Scheidewand zwischen Graubünden und den Kantonen Glarus und St. Gallen bildet, so fällt der Blick auf einen gewaltigen Stein, der über den zu Flims gehörigen Höhen Fidaz hervorragt und sich an die dahinter liegenden höhern Bergrücken anlehnt. Dies ist der Flimserstein, auf welchem drei Alpen liegen und wo an 200 Kühe jährlich übersommert und gemolken werden. Auf drei Seiten hat der Stein unzugängliche schroffe Wände. In der Mitte der vordern dem Tale zugewandten Seite sieht man aus viele Stunden weit rote Streifen sich über die senkrechte, mehrere hundert Schuh hohe Wand herunterziehen. Der Wanderer fragt verwundert nach dem Ursprünge dieser Streifen an der grauen Kalkfelswand. Wer nicht genauer unterrichtet ist, wird glauben, es sei ein rötlicher, eisenhaltiger Niederschlag eines Wassers, das unter der Erdrinde auf der Krone des Steines hervorquillt und über die Felswand herunterrinnt. Die Sage gibt aber andern Aufschluss.
In alten Zeiten führten die Bewohner des bündnerischen Oberlandes und die Glarner öfters Fehde gegen einander. Da begab es sich einmal, dass die Glarner über das Gebirg hereinzogen, die Alpsennen und Hirten auf dem Flimserstein überfielen und ihre schönen Kühe als Beute forttrieben. Einer der Sennen eilte hinaus auf den Rand des Steines und blies in das Alphorn um Hülfe, so heftig, dass ihm seine Brust zersprang und er sterbend niedersank. Das Blut, das aus seiner Brust quoll, rieselte über die Felswand herab und färbte sie rot, und weder Regen noch Sonnenschein können diese Blutstreifen bleichen und verwischen. Sie sollen und müssen rot bleiben zum ewigen Andenken an den treuen Senn, der es sich so sehr angelegen sein liess, die Eigentümer der Kühe im Tal von der Gefahr und dem Raube zu benachrichtigen.
Sein Hülferuf war vernommen worden. Einige rüstige Männer machten sich alsbald auf und setzten den Räubern nach. Diese taten sich im glarnerischen Dorfe Elm gütlich und liessen unterdessen die geraubten Kühe auf einer Wiese weiden. Die Bündner näherten sich in der Dunkelheit der Nacht und nahmen, während die Räuber zechten, den Kühen die Schellen ab, hängten sie alle der Heerkuh an und trieben dann im Stillen die ganze übrige Herde wieder zurück über das Gebirg. Die Räuber, welche alle Schellen fortwährend tönen hörten, glaubten alle Kühe seien beisammen und erst bei Tagesanbruch gewahrten sie zu spät ihren Irrtum und sahen zu ihrem grossen Ärger eine einzige Kuh über und über mit Schellen behängt auf dem grünen Wiesenplan weiden.
Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.