Im Unterengadin und im Münstertal erschienen vormals gewisse feenhafte weibliche Wesen, wie die Sage auch in andern Tälern Graubündens noch von solchen unter dem Namen „Waldfänken" erzählt.
Es sind nicht die nämlichen, wie die „wilden Männlein und Weiblein". Es kamen stets nur weibliche Wesen vor. Im Unterengadin und Münstertal hiessen sie „Dialas". Es waren weibliche Wesen von leidlicher Schönheit, sehr freundlich und gutherzig. Ein Umstand aber entstellte sie in den Augen mancher Leute, sie hatten Ziegenfüsse. Sie erschienen öfters den Hilfsbedürftigen, geleiteten verirrte Wanderer auf den rechten Weg und bewirteten hungrige und durstige. Armen Leuten, die im Schweisse ihres Angesichtes arbeiteten und nach einer Labung lechzten, erschienen sie hin und wieder, breiteten ein weisses Tuch vor ihnen aus und trugen auf blendend weissem silbernen Geschirr Speise und Trank auf. Es fürchtete sich auch niemand vor ihnen, denn man kannte ihre gute Gemütsart.
Einmal ging eine arme Frau durch einen Wald. Müde setzte sie sich einige Augenblicke auf einen Stein; sie befand sich in gesegneten Umständen und war lüstern nach einem Stückchen neugebackenen Brotes. In ihrer Heimat, wo man nur einigemal im Jahr backt und darum das Brot gewöhnlich sehr hart isst, gehörte, wie auch noch heutzutage, neugebackenes Brot zu den Leckerbissen. Sei es nun, dass sie ihre Lüsternheit laut werden liess, sei es dass eine Diale ihre Gedanken belauschte, als sie sich aufrichtete um weiter zu gehen, duftete ihr der Geruch von neugebackenem Brot entgegen und sie erblickte ein solches noch dampfend neben sich im Moose liegen.
In neueren Zeiten sieht man keine Dialen mehr. Die böse Welt hat sie verscheucht. Einst arbeitete eine Familie auf dem Felde und nachdem sie recht fleissig gewesen war, erblickte sie plötzlich ein Tuch ausgebreitet und silberne Gefässe mit Speise und Trank darauf. Die Dialen hatten es aufgedeckt und hiessen die Arbeiter sich lagern und essen und trinken, mit ihrem gewöhnlichen Ausdrucke: „iss und lass" das wollte soviel sagen, als man solle sich gütlich tun, das Silbergeschirr aber nicht antasten. Der Knecht der Familie aber war ein böser Mann, der steckte den silbernen Löffel in die Tasche. Sogleich verschwand das Gedeck, der Löffel ward zu Feuer und seither erschienen in jener Gegend die Dialen nicht mehr.
Die Dialen pflegten in Grotten zu wohnen, die sie schön ausschmückten. Auch hatten sie weiche, reinliche Lagerstätten von Moos. Einst kam ein Mann zu einer solchen Grotte, sah sie leer, trat ein und legte sich verwegen auf eine Lagerstätte. Als die Dialen kamen und ihn erblickten, entfernten sie sich eiligst und wurden dort seitdem nicht mehr gesehen.
Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.