Die Bergwesen können ganz besonders schön singen. Oft sitzen sie auf steilem unzugänglichem Felsengipfel und singen so schön von ihrer luftigen Höhe herab, dass die Leute unten im Tal ganz bezaubert werden und die Engel des Himmels zu hören glauben. Sie sind aber ein wenig stolz auf ihr Singen und lassen nicht Spiel treiben mit demselben.
Ein Bauer hatte einst zwei Knechte, einen Melcher und einen Herdknecht. Der Melcher war ein gar frommer und guter Mensch, behandelte sein Vieh, als wären's Menschen, und fluchte und schwur niemals. Dieser musste nebst dem Vieh im Stalle auch das auf der Sommerweide besorgen. Der Weg zu demselben führte ihn bei einer alten Scheuer vorbei, in welchem sich öfter Bergleutlein aufhielten. Schon manchmal hatte er sie wunderschön singen gehört und oft war er lange gestanden und hatte mit Vergnügen ihrem Gesange zugehört.
Einst als er sich auch an ihrem Gesang ergötzte, luden sie ihn ein, zu ihnen in die alte Scheuer zu kommen. Er ging hinein und ward entzückt über solchen Gesang, er äußerte aber auch sein Bedauern, dass er nicht singen könne. Die kleinen Sänger aber trösteten ihn und forderten ihn auf, auch mitzusingen. Er versuchte es, und zu seiner großen Freude konnte er die schönsten Lieder mitsingen. Sie verboten ihm aber keinem Menschen zu sagen, wo er so singen gelernt habe.
Er ging heim. Am folgenden Morgen als er sein Vieh fütterte und seine Kühe molk, versuchte er seine Stimme, und sie hatte eine solche Feinheit und einen solchen Schwung erhalten, dass er die schönsten Weisen singen und jauchzen konnte. Jedermann verwunderte sich, diesen sonst so stillen Melcher nun so bezaubernd singen zu hören; denn er hatte sonst gar nicht singen können.
Sein Kamerad aber, der Herdknecht, war auch ein gar lustiger Bursche, konnte singen und jauchzen, und deswegen war er berühmt bei den Leuten. Daneben war er aber ein sehr wüster Mensch, fluchte gar jämmerlich, beleidigte die Menschen, quälte die Tiere, und trieb sonst alles Wüste. Als nun der Melcher so schön singen gelernt hatte, war der Herdknecht verdutzt. Die Leute wollten nur den Melcher singen hören und rühmten nur den Melcher, des Herdknechts Singen verspotteten sie.
Da ward er traurig und drang heftig in den Melcher, ihm doch zu sagen, wo er so singen gelernt habe. Dieser war aber standhaft. Um keinen Preis wollte er seinen Lehrmeister verraten. Je mehr er sich weigerte, desto schöner sang er.
Endlich aber, als der Herdknecht immer zudringlicher ward, und ihm manches Schöne versprach, sagte jener aus, wer ihm die Kehle geöffnet habe. Der Herdknecht ging hin zum alten Scheuerlein, fand aber keine Bergsänger; denn diese fürchteten sich vor einem so wüsten Menschen.
Der Melcher verstummte aber von dem Augenblicke an, da er Verräter geworden war. Wie sehr er sich auch anstrengen mochte, die Triller seiner vorigen Nachtigallkehle glichen immer mehr dem Gekrächze der Raben.
Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.