Wenn man von Sumiswald nach Langnau geht, und dann von der Landstrasse rechts abschwenkt, so kommt man auf einem kleinen Umweg nach Lauperswil. Über der Zollbrücke drüben sieht man oben auf dem Kalchmattenberg die Ruine des Schlosses Wartenstein. Es ist ein verwitterter viereckiger Turm, dessen eine Seite eingestürzt ist, das übrige Grundgemäuer liegt im Verstecke schöner Buchen und Tannen. Zwischen inne sieht man eine runde Einsenkung durch Schutt ausgefüllt, dies ist der Sodbrunnen des Schlosses gewesen.
Hier lebte der letzte des Geschlechtes von Wartenstein, ein bejahrter Mann. Er hatte ausser seiner sehr hübschen Tochter niemand als einen weitläufigen Verwandten bei sich, einen von Weissenfels, den er zum Adoptivsohn angenommen hatte. Im übrigen lebte er mit einer nur geringen Dienerschaft zurückgezogen und stille, und kümmerte sich, anstatt um Welthändel und Ritterfehden, nur um seine Bauern im Tale, die mit grosser Liebe ihm anhingen.
Trotz der Entlegenheit des Schlosses und dem bescheidenen Leben der Familie, war die Schönheit des Schlossfräuleins doch weitum bekannt, und der wilde Ritter von Brandis, der im Emmental seine Burgen hatte, warb um sie. Man konnte dem Mächtigen nichts abschlagen, und so verlobte man ihm das Mädchen. Darüber verfiel der von Weissenfels in den tiefsten Gram; er nahm brieflich von Vater und Tochter Abschied und zog noch in derselben Nacht ab. Allein des Fräuleins Tränen waren vor Brandis nicht unbemerkt geblieben, er geriet in Eifersucht, ritt dem Abziehenden nach, überwältigte ihn und brachte ihn verwundet in sein Schloss, um ihn hier im Kerker hinsterben zu lassen. Jedoch des Freiherrn Schwester verband den Armen, speiste und pflegte ihn und war ihm zuletzt, während der Abwesenheit ihres Bruders, auch zu seinem Entkommen behilflich.
Inzwischen hatten sich aber Wartenstein und Brandis entzweit, und letzterem wurde die Verlobte wieder versagt. Jetzt belagerte er ihr Schloss und stürmte es endlich. Als der Alte die Feinde eindringen sah, stürzte er sich mit seinem Kinde in den Sodbrunnen. In diesem Augenblicke betrat der stürmende Brandis den Burghof und sah die Unglücklichen versinken. Während ihn der Schrecken übernahm, kam ein Pfeil durch sein Helmvisier gezischt, und auch er sank tot zusammen. Ein treuer Diener des Wartensteiners hatte den Schuss getan. Das angezündete Schloss brannte vollends nieder. In jener verschütteten Grube, wo einst die Öffnung des Brunnens war, erhebt sich jetzt in mondhellen Nächten die Gestalt der weissen Frau und schwebt zwischen den Bäumen.
(Mitth. von Ed. Scheidegger von Huttwil.)
Sage aus Lauperswil, Bern
Band 3.2, Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen, Leipzig 1962, S. 141 - 142
Anmerkung der Einleserin: Im Ortsbuch von Lauperswil kann man noch mehr über die Besitzer der Burg Wartenstein lesen, u.a. eine weitere Sage. S. 26 - 30: „Die Burg Wartenstein dürfte zu Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut worden sein, vielleicht als Ersatz für eine ältere Burg, die sich auf dem sog. Zwingherrenhubel westlich über dem Dorfe Rüderswil erhoben hatte. Die Herrschaft Wartenstein, zu der neben Lauperswil auch Rüderswil gehörte, war vermutlich ein Bestandteil der ausgedehnten Freiherrschaft Signau. ... Urkundlich ist 1228 ein Ulrich Swaro von Wartenstein der erste namentlich erwähnte Besitzer der Burg.“ Der letzte Besitzer, Hans von Ballmoos, Junker, Herr zu Wartenstein, Lauperswil und Rüederswil, Vogt zu Aarberg, starb 1493, hinterliess viele Schulden und noch unmündige Kinder Die 1383 zerstörte Burg kann man heute noch besichtigen, der bis auf 18 m ausgegrabene Soodbrunnen ist mit einem Eisengitter überdeckt.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.