Das Bruderhäuschen auf dem Wiedereck bei Effingen

Land: Schweiz
Region: Fricktal
Kategorie: Sage

Der Wiedereck ist ein Berg vom Fusse bis zur Krone mit Reben bewachsen; er liegt beim Dorfe Effingen im Fricktal. Der Effinger weiss, was es heisst, im Frühlinge Grund in diese Rebgelände tragen. Doch im Herbst wird der saure Schweiss zu süssem Moste.

Die Krone des Wiedereck's ist mit einem jungen Buchenwalde bekränzt, aus welchem die Amsel ihr herrliches Lied ins Tal erschallen lässt und bisweilen ein saftiges Beerlein wegschnappt. Durch das Gesträuch schimmert eine Felsenwand, eine Höhle in ihrem zerklüfteten Jurakalk wird das Bruderhaus genannt; der Eingang gleicht einem offenen Tore. Vorsichtig dringen wir gegen fünfzig Fuss ins Innere, das sich allmählich verengert, zuhinterst tröpfelt beständig klares Wasser in zwei Tropfsteinschüsseln. Links glauben wir ausgehauene Vertiefungen wahrzunehmen, ähnlich einem Backtroge. Herabgefallene Felsstücke dienen uns als Bänke zur kurzen Rast. Wir bemerken in der Nähe in kleinern Höhlen Geräusch. Es sind fette Dachse, die ihr Winterquartier einrichten. Das ist ein verlockender Ort für Wildschützen, wo sie aber oft magern Geldbeutel statt erwünschter Beute bekommen.

Der Führer leitet uns durch einen zweiten Ausgang ins Freie.

„Das ist das Bruderhäuschen," antwortet er unserer noch nicht ganz befriedigten Neugierde. Also ein Waldbruder hat früher hier gehaust. Wirklich scheint die ganze Einrichtung dazu geschaffen zu sein. Eine ähnliche Höhle findet man auch bei Brugg, welche an den Einsiedler Berthold Strobel erinnert. 

Erdmännchen und Erdweibchen, sagen Andere, haben diese Höhlen bewohnt. Das waren winzig kleine, geheimnisvolle Wesen. Kein Mensch konnte sie näher beschreiben, im Augenblicke waren sie da und im Nu wieder verschwunden.

Aber gute Geschöpfe müssen sie gewesen sein; wer im Walde verirrte, den führen sie wieder auf den rechten Weg. Den hungrigen Arbeitern und Taglöhnern brachten sie Brot „z'Nüni und z'Abed."

War die Arbeit bei anbrechender Nacht nicht vollendet, so machten sich die Erdweibchen daran und Morgens war sie fertig. Lag irgendwo ein Kranker, der ärztlicher Hilfe und pflegender Hände entbehren musste, gleich waren die Erdweibchen da mit Tränklein, Tüchlein und Kanne; wurde ihnen ihr Geschenk nicht abgenommen, so gingen sie traurig fort. Sollte einem Bäuerlein Haus und Hof versteigert werden, so waren es die Zwerglein, die in der'Nacht dem Bedrängten Geld zum Fenster hineinwarfen. Sie waren das Glück der ganzen Gegend. Wer aber mit dem Glücke sein Spiel treibt, verliert es.

So erging es unsern Vorfahren. Sie fingen an, die Erdmännchen zu verhöhnen. Ein Wunderfitz wollte wissen, wie sie auch Füsse hätten, denn das konnte man ihrer Röcke wegen nie sehen; daher streute er auf den Fussboden der Höhle Asche, und es zeigten sich Entenfüsse. Von diesem Tage an aber waren die Erdmännchen und Erdweibchen verschwunden.

 

Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen, Band 3.2, Leipzig 1962

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

 

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