So lange die Bevölkerung des Fricktales noch geringer, Wald und Weide also ausgiebiger war, als heute, war dort in allen Berggemeinden der Weidegang der Tiere so landesüblich, wie jetzt noch in den Alpen. Man liess die Rinder den Sommer hindurch auf den Höhen frei laufen, ein paar Hirtenjungen zum Hüten, und ein Sennknecht zum Melken, Buttern und Käsen genügte für eine ganze Herde von zwanzig bis dreissig Stück. Der Gutsbauer blieb indessen drunten im Tale; wenn die Zeit kam, um mit dem Sennen über Butter- und Käsegewinn abzurechnen, oder wenn man junge Kälber zum Verkaufe herabbringen sollte, verliess auch er einmal sein Dorf und besuchte seine sogenannte Bergheimat. So war es im Fricktale noch zu Anfang dieses Jahrhunderts gewesen. Wenn nun da der Bauer noch vor Tage zu Berge stieg und um keine Zeit zu versäumen, daheim ohne Frühstück fortgegangen war, so konnte es gar wohl der Zufall wollen, dass er droben bei seiner Sennhütte ankommend, sie vollständig leer sah, weder die verhoffte Schüssel Milch traf, noch draussen die Kühe oder den Küher aufzufinden wusste; was hätte er alsdann weiter tun können, als denselben harten Weg hungrig und durstig wieder heimwärts machen zu müssen.
Da gab es jedoch noch hilfreiche Wesen in den Bergen, auf die sich ein rechtschaffener und gegen die Seinigen billiger Landmann in solcher Lage immer verlassen konnte, und das waren die Heidenweibchen. Die halfen ohnedies schon den Weidbuben den Wolf abhalten, das Vieh hüten, ein verlaufenes Stück aufsuchen und zum Melken herbeilocken, die hatten aber auch im voraus für den braven Meister sich vorgesorgt, wenn sie ihn an den bestimmten Tagen den Berg herauf kommen sahen. An das letzte Weidgatter, wo der Aufweg gewöhnlich am steilsten zu sein pflegt, legten sie Wähen und Brotlaibe hin, die dufteten noch nach dem Ofen und lagen entweder reinlich auf der Laubhecke oder gar auf einer schneeweissen Zwehel da. Weiter droben auf der Matte hatten sie für ihn Hirtenfeuer angezündet und die Kartoffel, die sie hineingelegt, brieten keinen Augenblick früher fertig, als bis der Erwartete daran vorbei kam. Der Lieblingsaufenthalt dieser freundlich gesinnten Bergjungfrauen war der Martisbrunnen. Seine Lage ist folgende. Der Homberg und das Horn sind zwei lang gestreckte Berge beim Dorfe Wittnau, und dazwischen zieht sich das enge Fahrental in die Höhe. Weiter hinauf wird dasselbe eine schmale Schlucht, die nur noch Raum lässt für den Karrweg, auf dem man das Heu bergab schlittet oder karrt, und für den ziemlich starken Bach, der nebenan zu Tale geht. Mehr als zwanzig kleinere Bäche stürzen zugleich mit lautem Brausen von den steilen Abhängen des Homberges in diese Enge herein. Einer derselben ist der Martisbrunnen und eben an ihm haben die Heidenweibchen gehaust. Doch nicht dass sie bloss auf diese Bergeinsamkeit beschränkt geblieben wären; sie kamen auch weiter ins Wittnauer Tal herab und brachten den Bauern süsse, mürbgebackene Wähen an den Pflug. Dass diese Wähen unnachahmlich gute Rahmkuchen waren, ist eine ausgemachte Sache, und wer davon einmal genossen hatte, durfte sagen, er habe das Beste auf der Welt gegessen.
Da hatte denn auch ein junger Mann seinen Kleeacker fertig gepflügt und mit der Egge schön geebnet, als er das wohlbekannte Heidenweibchen gegen das Feld herankommen sah. Er wusste schon, was sie überbringen und wohin sie es ab- legen werde. Aber ihn reizte diesmal nicht der frische Kuchen, sondern ihn stach die Neugier zu erfahren, warum wohl unter ihrem langen Schleppkleide noch niemals ein Füsschen habe sichtbar werden wollen. Schnell knüpft er daher seinen Gipssack auf, den er zur Düngung des Kleeackers heute mitgenommen hat, und leert ihn in einem dicken Haufen um den Pflug aus.
Das gute Weibchen kommt, legt den Kuchen auf das Pflughaupt ab, geht wieder weg — und ach, die Fusstapfen, die sie in dem Gipse hinterlässt, sind leider die von Ziegenfüsschen. Diese alberne Neugier des einen Wittnauers ist dem ganzen Dorfe teuer zu stehen gekommen. Denn seitdem kann sich der Pflüger hungrig ackern, der Hirtenbube sich heiser schreien, der Gutsbauer sich müde steigen, sie finden keine Wähen mehr auf dem Pfluge, kein Brotlaib mehr an dem Weidehag, keine gebratene Kartoffel mehr auf der Almende, sie finden kaum ihr verlaufenes Vieh im Holze wieder, und der Weidetrieb auf dem Berge ist ohnedies ganz eingegangen.
Nichts mehr besteht noch als der Martisbrunnen, jener Bach, an dessen Sturz die Hirten Abends das Vieh zur Tränke treiben; ein alter Eichentrog, der dort steht, erhält dem Bache noch den Namen eines Brunnens. Aber gerade über diesen treiben die Nachbargemeinden ein arges Gespötte und geben vor, er mache alle toll, die aus ihm trinken. Wenn daher ein Wittnauer beim Tanz auf Jahrmarkt oder Kirchweih allzulaut sich vernehmen lässt, so ruft man ihm neckend zu: „Hesch ab s’ Martis Brunnne g’soffe, dass d’ e so brüelisch (vorlaut bist)?“
Noch weiter geht diese Stichelei, denn man sagt, von diesem Wasser müssten alle Wittnauer zu Narren werden. Es predige daher ihr Pfarrer ihnen alljährlich nur über zweierlei Texte, welche auf einen und denselben hinaus laufen, also lautend:
„Um die Narren in Wittnau zusammen zu bringen,
Muss der Schmied ums Dorf eine Kette schlingen.
Um die Wittnauer Narren zusammen zu finden,
Muss der Seiler ums Dorf den Narrenstrick binden.“
Doch die Wittnauer lassen sich deswegen ihren Martisbrunnen keineswegs abschätzen, sondern schenken ihm bei Flurumgängen und Prozessionen noch immer eine besondere andachtsvolle Aufmerksamkeit. Und wenn die ganze Gemeinde alljährlich im Frühjahre, den gebotenen Feldumzug um alle Gemeindegemarkungen abhält, den man die Bannbeschreitung nennt, und dann dem Martisbache sich nähert, so laufen die Knaben in die Wette voraus, um den ersten Trunk im Maien aus diesem klaren Bergwasser zu tun.
(Th. Studer aus Wittnau.)
Sage aus Wittnau
Band 3.1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen, Leipzig 1962, S. 102 - 105
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.